Jakub Józef Orliński: Die Menschen haben exotische Vorstellungen von Countertenören
Text: Helena Havlíková
Jakub Józef Orliński. Foto: Jyiang Chen
Der erst dreißigjährige Jakub Józef Orliński zählt zu den bedeutendsten Gesangstalenten der Gegenwart, nicht nur durch seinen brillant beherrschten Countertenor, sondern auch als hervorragender Breakdancer macht er auf sich aufmerksam. In Tschechien tritt er zum ersten Mal am Samstag, 2. Oktober, als Protagonist des Eröffnungskonzerts des 6. Musikfestivals Lednice|Valtice auf.
Mit der französischen Formation Ensemble Matheus unter der Leitung des Geigers Jean-Christophe Spinosi ist das Programm auf einen Komponisten ausgerichtet, dem der gesamte Festivaljahrgang gewidmet ist – Antonio Vivaldi mit seinem 280 Jahre zurückliegenden Todestag. In der Schlossreithalle Valtice werden, gesungen von Jakub Józef Orliński, Arien aus Vivaldis Opern L’Olimpiade, Il Giustino, Farnace, Orlando finto pazzo und Andromeda liberata sowie aus der Kantate Cessate, omai cessate erklingen.
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Wie haben Sie das Programm für das Musikfestival Lednice|Valtice konzipiert?
Maestro Spinosi und ich hatten ein Gespräch darüber, wie wir gemeinsam Vivaldi präsentieren könnten, dessen Musik von seinem Orchester auf ganz unglaubliche Weise gespielt wird. Ich war davon begeistert, denn ehrlich gesagt habe ich gerade nicht viel Gelegenheit, Vivaldi zu singen. Ich singe immer nur Vedrò con mio diletto, Sento in seno – das ist alles. Dabei gibt es viele Lieder, die ich gerne singen würde oder in Warschau einstudiert habe, zum Beispiel die Kantate Cessate, omai cessate, die ich unbedingt wieder aufleben lassen möchte, noch dazu mit einem so großartigen Ensemble unter der tollen Leitung Spinosis.
Ich bin sicher, dass wir gemeinsam für das Publikum etwas Neues erschaffen können, auch wenn es sich um ein so bekanntes Werk handelt, das die Leute bereits in mehreren Versionen kennen. Zu allen Stücken im Programm habe ich eine emotionale Beziehung, aber ich habe kein bevorzugtes Lieblingswerk. Manche Arien sind mir ganz neu, manche habe ich schon gesungen, zum Beispiel eben während meines Studiums in Warschau. Auf jeden Fall glaube ich, dass wir mit dem Ensemble Matheus etwas Erfrischendes bieten werden und freue mich sehr darauf, zum ersten Mal solistisch für Tschechisches Publikum zu singen, noch dazu an einem so schönen Ort wie Valtice.
Countertenöre, die in weiblicher Stimmlage singen und heute in den Rollen ursprünglich für Kastraten gedachter Barockopern auftreten, gelten noch immer als skurril. Wie sind Sie zu diesem Gesangsfach gekommen?
Schon als sehr kleines Kind habe ich angefangen im Chor Gregorianum zu singen und habe dort zwölf Jahre durchgehalten, daher ist Musik seit meiner Kindheit ein Teil von mir. Ich komme aus einer Familie, in der sich alle mit Kunst beschäftigen – Künstler, Architekten, Designer, Bildhauer… Aber meine Eltern liebten verschiedene Musikgenres und wir hörten Musik sowohl zu Hause als auch auf unseren häufigen Reisen. Ich denke, hier liegen die Wurzeln meiner Liebe zur Musik. Angefangen habe ich im Chor als Alt, später wechselte ich zum Bassbariton. Als meine Freunde und ich dann das Kammerensemble Men Vocal Ensemble Gregorianum gründeten, kehrte ich zum Alt zurück, ohne zu wissen, dass man dazu Countertenor sagt!
Und hier wurde meine wahre Leidenschaft für Alte Musik geboren. Ich denke, diese Erfahrung hat mein Leben grundlegend verändert und auch einen großen Einfluss auf meine Karriere gehabt. Als Countertenor zu singen hat mir einfach viel mehr Freude bereitet, als Bassbariton zu sein. Ich wollte so viel wie möglich über diese Technik erfahren und obwohl ich in der Volksschule Zeichnen und Malerei gelernt habe, übrigens war ich darin absolut schrecklich, beschloss ich allein und auf eigene Faust, an der Universität Musik zu studieren. Ursprünglich war ich vor allem motiviert, etwas zu lernen und in unser Ensemble zurückzukehren. Ich bin jedoch nach Eintritt in die Chopin-Universität in Warschau völlig dem Sologesang und der Barockmusik verfallen. Und auf einmal änderten sich all meine Pläne.
Würden Sie also einen Moment ihrer Karriere als Wendepunkt betrachten?
Ich denke nicht. Ich habe mich einfach ohne Erwartungen von einem Ort zum nächsten bewegt und alles hat sich irgendwie allmählich entwickelt. Viele Leute sagen: „Klar, Du hast den Wettbewerb der Metropolitan Opera gewonnen, das war ein Wendepunkt.“ Andere sagen: „Du hast die Arie Vedró con mio diletto beim Festival in Aix-en-Provence gesungen, die inzwischen mehr als acht Millionen Clicks auf YouTube hat, das hat Deine Karriere verändert.“ Aber ich stimme dem nicht zu. Ich bestreite nicht, dass diese beiden Fälle großartige Momente sind, die mir geholfen haben, vielleicht besser wiedererkennbar zu sein, mein Publikum aufzubauen. Vor allem in Europa habe ich jedoch bereits irgendwann um 2011 zu singen begonnen, drei Jahre später trat ich in meiner ersten internationalen Produktion in Aachen auf und arbeitete dann fast anderthalb Spielzeiten in Deutschland, sowohl in Konzerten als auch in Opernaufführungen. Anschließend ging ich in die USA, um an der Juilliard School zu studieren.
Wie lief dieses Studium ab?
Ich saß jeden Tag von acht Uhr morgens bis Mitternacht in der Schule. Es war schwer, aber das habe ich gern in Kauf genommen und heute bin ich eigentlich froh darüber. Ich habe das Gefühl, dass ich wirklich hart für meinen Erfolg gearbeitet habe.
Und dann? Noch immer kein Meilenstein?
Ich kehrte nach Europa zurück. Kurz gesagt gab es viele aufeinanderfolgende kleine Episoden. Und nicht nur im Bereich Gesang, um mein Studium in Polen und den USA zu finanzieren, habe ich als Model gearbeitet, als Breakdancer, für die StreetWay Company, ich habe viele Dinge gemacht, bei denen es im Grunde gar nicht ums Singen ging, die mir aber später viele weitere Möglichkeiten boten, zum Beispiel war ich auf dem Cover der Vogue, das ist wirklich eine große Sache. Einige Models arbeiten Jahre, um auf die Titelseite eines so renommierten Magazins zu kommen, und dennoch gelingt es ihnen nie. Mir ist es aber gerade passiert, weil ich viele verschiedene Wege eingeschlagen habe, die ab einem gewissen Moment aufeinandertrafen und anfingen zusammenzuarbeiten. Ich glaube also wirklich nicht, dass es irgendeinen Meilenstein in meinem Leben gab. Es geht um einen kontinuierlichen Weg, der glücklicherweise beständig ansteigt und zum Glück gibt es auf ihm weder abschüssige Höhen noch Stürze. Ein Weg, der sich Schritt für Schritt entfaltet.
Jakub Józef Orliński. Foto: Jyiang Chen
Können Sie einem Laien die Stimmtechnik eines Countertenors näher bringen? Worin unterscheidet sie sich eigentlich von der des „normalen“ Gesangs?
Ich denke, die Leute haben von der Stimme eines Countertenors sehr exotische Vorstellungen. Sie nehmen uns als eine Abnormalität war. Ich mag jetzt etwas kontrovers sein, aber ich denke heutzutage ist die Stimme eines Countertenors absolut gleichwertig gegenüber allen anderen. Natürlich erfordert sie einen etwas anderen Zugang und man muss sich entscheiden. Ich bin ursprünglich Bassbariton und ich hätte also Bassbariton studieren und als Bassbariton singen können. Ich habe mir trotzdem den Weg des Countertenors ausgesucht, den jeder männliche Sänger wählen kann, sofern er kein Problem mit den Stimmbändern hat. Wirklich jeder hat jedoch die Möglichkeit in diesem Register zu singen. Die Grundregel lautet: Je schmaler der Spalt zwischen den Stimmbändern ist, durch welche die Luft strömt, desto höher ist der Ton, den Sie singen können. Das ist eine allgemeine Regel. Wenn wir über die Stimmtechnik des Countertenors sprechen, also darüber, wie man Falsett singt, dann ist es so, dass während normalerweise die ganzen Stimmbänder vibrieren, der Countertenor nur einen kleinen Teil davon in Schwingung versetzt, nur die näher beieinander liegenden Ränder, so dass weniger Luft durch den Spalt strömt. Der resultierende Effekt ist eine höhere Stimme.
Countertenor zu singen ist also eigentlich ganz natürlich?
Ja. Selbstverständlich müssen Sie lernen und daran arbeiten, wie sie schrittweise den Tonumfang erweitern, die Stimme mit Atemtechnik und einer Kombination aus Kopf- und Brustresonanz stärken, aber alles andere ist absolut genauso wie bei anderen Stimmfächern.
Der Countertenor ist in seiner Farbe unersetzbar – so, wie die Idee von Engelsstimmen ist er androgyn, irritiert sowohl durch seine „Gender“-Uneindeutigkeit als auch durch seine „Überlegenheit“. Die alten Komponisten schrieben ihre Arien direkt für Kastraten und deren einzigartige Stimmfarbe, die weder eindeutig männlich noch weiblich war. Glauben Sie, dass die Farbe der Stimme zeitgenössischer Countertenöre mit der Farbe der damaligen Kastraten vergleichbar ist?
Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, einige Aufnahmen sind zwar erhalten geblieben, aber wir können immer noch nur vermuten. Auf jeden Fall gab es vom Umfang her verschiedene Arten von Kastratenstimmen, und dasselbe gilt heute für Countertenöre – Sopran, Mezzosopran oder Alt, wie ich ihn singe. So werde ich zum Beispiel niemals Ariodant singen, weil mir diese Titelrolle in Händels Oper zu hoch ist. Alles, was für Farinelli geschrieben wurde, ist für mich zu hoch. Ich singe Rollen, die für Nicolini (Nicolo Grimaldi, 1673–1732), Senesino (Senesino, 1686–1758) bestimmt waren, die hatten genau den gleichen Umfang. Wenn ich also in Noten „für Nicolini“ oder „für Senesino“ sehe, sage ich: „OK, das kann ich singen.“
Aber es gibt eine riesige Menge an Repertoire, das ich einfach nicht singen kann, weil es nicht zu meiner Stimme passt. Es ist das gleiche wie in anderen Gesangsdisziplinen in anderen Epochen. Wenn eine Solistin Sopranistin ist, heißt das nicht, dass sie alle Sopran-Rollen singen kann, denn Komponisten arbeiten mit unterschiedlichen Sopran Typen. Es gibt also eine Menge Musik, die ich nicht singen kann, und daneben auch ganz viel, die ich singen kann, und darauf konzentriere ich mich.
Wenn wir über bestimmte Gesangsdisziplinen innerhalb der vokalen Grundkategorien sprechen – könnte man sagen, dass es zum Beispiel einen Spinto-Countertenor gibt?
Vielleicht…. Heutzutage existieren so viele Typen von Countertenören mit extrem schönen Stimmen, riesigen Tonumfängen, von denen sind einige sehr dramatisch, andere wiederum durchscheinend, leicht, warum also nicht?
Wo bewegt sich eigentlich der Tonumfang der Altstimmen in Barockopern?
Normalerweise sind es anderthalb bis zwei Oktaven. Das ist nichts erstaunliches. Was sind schon zwei Oktaven? Da könnte fast jemand behaupten, es sei eigentlich ganz einfach. Ist es aber nicht. Es ist wirklich sehr schwierig, in diesem Bereich jeden Ton unter absoluter Kontrolle zu haben, damit alle perfekt im Klang sind. Hohe Töne „herauszuschreien“ ist einfach. Schwierig ist es, in der mittleren und tiefen Lage so zu singen, dass die Töne saftig sind und über das Orchester tragen. Wenn ich beispielsweise Händels Julius Caesar singe, ist die Orchesterbesetzung sehr voll und ich muss da drüber kommen, obwohl ich relativ tief singe. Das gleiche Problem habe ich in Vivaldis Opern. Ich brauche eine durchschlagende Stimme, um nicht vom Orchester verschluckt zu werden. Daher ist auch in tiefen und mittleren Lagen viel Arbeit nötig, um die Stimme in einen schönen, tragenden Klang modellieren zu können.
Was haben Sie denn für einen Stimmumfang?
Ich denke, die Menschen merken sich meine Stimme vor allem dank ihrer Tiefe. Ich habe verhältnismäßig viel an einem natürlichen Übergang von der Bruststimme, sagen wir dem Bariton, zum Falsett-Register (Countertenor) gearbeitet und ich denke, es ist mir gelungen einen sehr weichen Übergangen zwischen ihnen zu schaffen.
Der höchste Ton, den ich in Kadenzen verwende ist ein fis. Als ich jünger war, habe ich es auch geschafft, ein hohes b herauszuschreien, aber das war der höchste Ton, den ich jemals gesungen habe und mir ist dabei fast das Hirn rausgesprungen!
Hatten Sie oder haben Sie ein Vorbild?
Ich habe keinen bevorzugten Sänger im Sinne von – Das ist mein absolutes Ideal und es gibt niemand anderen. Aber ich verfolge gern, was andere tun, schaue mir von ihnen ab, was mir gefällt und bemühe mich, das auf irgendeine Art in meinen Gesang zu implementieren. Ich hab beispielsweise den Aufnahmen von Philippe Jaroussky viel Zeit gewidmet und mir immer gesagt: „Mein Gott, wie macht der das nur, dass er solch eine Atemkontrolle hat, dass er es schafft, so unglaublich lange Phrasen zu singen! Wie gern würde ich das auch können!“ Ich habe dieselben Vivaldi Kantaten geübt und mich bemüht, in einem Atemzug genau so lange Abschnitte wie er zu singen. Als wir uns später persönlich trafen, sagte er zu mir: “Jakub! Bist Du wahnsinnig? Ich habe das nie ohne Luft zu holen gesungen! Das sind zwei nachträglich zusammengeschnittene Sequenzen!” Ich hatte damals überhaupt keine Ahnung, wie Aufnahmen funktionieren und zu was alles die Aufnahmetechnik in der Lage ist. So ist das also!
Auf der anderen Seite hat es mir sehr geholfen, Kontrolle über meinen Atem zu bekommen und manchmal habe ich es geschafft, die langen Phrasen in einem Atemzug zu singen! Ich bewundere auch Núria Rial mit ihrer einfach engelsgleichen und perfekt kontrollierten Stimme sehr, oder Ewa Podleś. Ich habe das Erdige bis „Zornige“ in ihrer Stimme geliebt, die Verbundenheit. Als Countertenor sehnte ich mich danach, diese in meinen Körper und meine Stimme aufzunehmen. Und solche Künstler, von denen ich viel gelernt habe, gibt es eine ganze Reihe.
Auch zeitgenössische Komponisten beginnen diese durch nichts ersetzbare Stimmfarbe zu nutzen. Haben Sie Erfahrung mit zeitgenössischen Werken?
Bereits als kleiner Junge habe ich im Chor neben Tallis, Palestrina und anderen Renaissance-Komponisten auch viele zeitgenössische Kompositionen gesungen. In einer zeitgenössischen Oper habe ich bisher erst ein Mal mitgewirkt – in Flight von Jonathan Dove, als ich an der Juilliard studierte. Und in diese Arbeit haben ich mich absolut verliebt, ich konnte mit einem lebenden Komponisten kommunizieren, das geht mit Händel und Bach so schlecht. Das hat mir wirklich ein unglaubliches Gefühl gegeben, deshalb gehört das Singen zeitgenössischer Musik zu meinen Plänen für die Zukunft. Eigentlich tue ich es schon. Momentan studiere ich ein rein polnisches Programm mit Namen wie Tadeusz Baird oder Paweł Łukaszewski ein, wir planen auch eine Aufnahme.
In diesem Jahr waren Sie am Album Adela beteiligt, das ist ein weiter Sprung von der Barockmusik!
Ich möchte den Menschen zeigen, dass ich mich nicht limitieren will. Wir kategorisieren Dinge gern. Ich bin Countertenorist und alle meine Aufnahmen sind in barocker Musik angesiedelt, sowohl das erste Album Anima sacra als auch das zweite Face d’amore, und jetzt erscheint im Oktober ein neues Album namens Anima aeterna. Es sind streng klassische Alben, die aus einem barocken Repertoire bestehen. Aber ich habe auch viele Lieder gesungen, die nichts mit Barockmusik zu tun haben, wie zum Beispiel dieses Album namens Adela, das ist, würde ich sagen, eher Ambient-Musik, in der ich viel improvisiere, aber anders als in der Barockmusik. Es geht um freie Improvisation, bei der wir den gleichen Abschnitt drei oder viermal eingespielt und dann eine Variante ausgewählt haben. Ganz ohne den Abschnitt zu schneiden oder zusammenzufügen. Auf diese Weise haben wir zwei Stücke aufgenommen, und es war so toll und so anders!
Zur selben Zeit haben wir im gleichen Trio mit Alexander Dębicz, der Klavier spielt, und dem Gitarristen Łukasz Kuropaczewski ein Weihnachtsprojekt vorbereitet, etwas jazzig angehaucht, mit Liedern wie Stille Nacht oder Santa Claus Is Coming To Town. Und dann habe ich auch das Lied Doliny mit dem polnischen Rapper Miuosh und dem Śląsk Lied und Tanz Ensemble aufgenommen, einem sehr berühmten Folklore-Orchester, das um die Welt reist und eine riesige Bandbreite hat. Śląsk hat ein Album aufgenommen, auf dem in jedem Song ein Gast mitspielt: Rapper, Slam-Poetry-Künstler, Popsänger, ich als klassischer Musiker. Und ich habe auch beim Projekt Pepsi Taste the Beat mitgemacht, für das der Song Nigdy Sam entstand. Neben mir haben noch ein Rapper, ein Pop-Sänger und ein Hip-Hopper daran mitgewirkt. Bisher wurde er auf YouTube schon von über vier Millionen Menschen gesehen. Aber es ist etwas ganz anderes, ich singe da im Stil von Justin Timberlake. Ich möchte weder eingeschränkt noch kategorisiert werden. Ich tue, wovon ich merke, dass es meiner Stimme gut tut, was aus mir herauskommt, was meiner Vision von mir als Künstler entspricht.
Ich habe eine Reihe interessanter Inszenierungen von Robert Carsen gesehen. Sie haben mit ihm im Rahmen eines Projektes der Gruppe Les Arts Florissants zusammengearbeitet. Tell Me the Truth About Love. Wie war die Zusammenarbeit mit ihm?
Tell Me the Truth About Love war ein Projekt, im Fall Robert Carsens würde ich vielleicht eher seine Inszenierung von Händels Rinaldo beim Glyndebourne Festivalu erwähnen, in der ich die Titelrolle sang. Eine absolut unglaubliche Produktion, eine der besten, die ich je gemacht habe. Auf der einen Seite wunderbar dramatisch, auf der anderen super unterhaltsam. Ich habe sie wirklich geliebt! Jetzt aber ehrlich: Ich habe zwar in seinen Inszenierungen gesungen, persönlich bin ich ihm jedoch nie begegnet. In Glyndebourne war es die dritte oder sogar vierte Wiederaufnahme, in der zwar eine Menge Dinge verändert wurden, und ich finde sehr schön, dass er den Änderungen zugestimmt hat, wir haben jedoch alles per E-Mail besprochen. Momentan schreiben wir uns über Zukunftspläne. Ich würde mit ihm gern etwas Neues schaffen, eine wirklich neue Produktion.
Sie beherrschen Breakdance, eine akrobatische Art von Streetdance, die auch als Breaking oder B-Boying bekannt ist. Ist das für Sie ein Hobby, eine Freizeitergänzung oder eine Weiterentwicklung Ihres künstlerischen Talents?
Ich mag kurz gesagt physische Aktivität. Ich hatte in meiner Kindheit das Glück, dass mir meine Eltern ermöglichten, viele Dinge auszuprobieren: Ich habe mich der Akrobatik gewidmet, dem Tanzstil Capoeira, das ist ein brasilianischer Tanzstil, der Kampfkunstelemente beinhaltet, Skateboarding, Inlineskating, ich habe Tennis gespielt. Jetzt war ich gerade das erste Mal seit acht Jahren im Urlaub, wo ich Wakeboarding ausprobiert habe und das war echt sagenhaft! Ich probiere schrecklich gern neue Dinge aus und das ist auch bei Opern der Fall.
Und wie passt dieser Hiphop-Tanzstil mit Oper und klassischer Musik zusammen?
Seit fast zwanzig Jahren höre ich den Satz: „Die Oper stirbt“. Aber sie stirbt nicht, was manchmal stirbt, ist ein Konzept. Für mich persönlich ist in der Oper sowohl Platz für einen konservativen Ansatz als auch für neue Perspektiven, für die wir offen sein sollten. Lasst uns unsere Augen und unser Herz weit offen halten und keine Angst vor Experimenten haben! Viele Regisseure, Choreografen, viele Theater scheuen sich nicht mehr, Risiken einzugehen, oft gerade im Bereich der Barockoper, was fantastisch ist. Warum sehen wir zum Beispiel so viele Barockopern kombiniert mit Streetdance? Denn, und das kann ich als Breakdancer sagen, in den Straßenstilen wie Popping, Locking, Krumping sind viele Emotionen und viel Freiheit, genau wie in der Barockmusik. Vieles wird natürlich von Komponisten definiert, aber es gibt immer noch einen riesigen Raum, um etwas von dir zu zeigen, von deinem wahren Selbst, das du filtern, ergänzen, ändern kannst… Du kannst im Grunde machen, was du willst, natürlich mit Kenntnis bestimmter Regeln. Ansonsten hat man in der Barockmusik viele Freiheiten, und daher werden die meisten Produktionen, die diese modernen Ansätze verwenden, mit der Barockoper in Verbindung gebracht. Was großartig ist!
Werden Ihre physischen Fähigkeiten von den Regisseuren genutzt?
Ja, viele von ihnen kennen mich bereits und wissen, was ich kann. Ich habe aber eine Regel: Ich mache keine Tricks um der Tricks willen. Ich bin kein Zirkusaffe. Aber bisher ist es mir nur einmal in meinem Leben passiert, dass ein Regisseur zu mir sagte: „Jakub, mach hier einen Rückwärtssalto.“ Und ich antwortete: „Sag mir warum? Warum ein Rückwärtssalto? Was hat das mit dem Charakter meiner Rolle zu tun?“ „Nein, nein, mach es einfach, weil es super cool wird!“ Und in diesem Moment sage ich nein. Aber ich habe mit fantastischen Menschen wie James Darrah zusammengearbeitet, die mein Wissen über meinen eigenen Körper nutzten und mich Dinge tun ließen, zu denen untrainierte Menschen nicht in der Lage sind, für mich aber sind sie sehr leicht. Zum Beispiel sowas wie, dass ich nicht einfach an einer aufgestellten Stuhlreihe vorbei gehe, sondern darüber springe. Das ist etwas, was ich problemlos schaffe, es macht mir viel Spaß und es hat auch wunderbar mit meinem Charakter und dem Charakter der ganzen Oper harmoniert. Wenn alles zusammenpasst, dann ist es toll und ich lasse mich gern davon überzeugen, aber wenn es nur dieses „Mach es, weil es cool wird“ ist, dann lehne ich solche Dinge ab.
Regisseure stellen in Opern heutzutage mit ihren extravaganten Auffassungen oft erhebliche Ansprüche an die Solisten hinsichtlich der Charakterkonzeption, der körperlichen Anforderungen, aber auch beispielsweise der Nacktheit. Ist es schon vorgekommen, dass Sie Anforderungen/Einfälle eines Regisseurs abgelehnt haben?
Das ist wirklich nur einmal und zwar in dem bereits beschriebenen Fall vorgekommen. Ich habe das große Glück, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die offen sind für Diskussionen. Mit Regisseuren, zu denen ich ein wunderbares Verhältnis habe, kann ich einen Dialog führen. Ich sage: „Ich fühle, dass es für diese Figur vielleicht besser wäre, in eine etwas andere Richtung zu gehen, ihr geistiger Weg ist ein anderer.“ Und der Regisseur sagt darauf: „Dann probieren wir das aus und sehen, was besser ist.“ Manchmal wendet er auch ein: „Ich weiß, dass du dich in meiner Version nicht sehr wohl fühlst, aber von außen sieht es viel besser aus.“ Und in dem Moment muss ich vertrauen, denn er ist derjenige, der mich mit Zuschaueraugen betrachtet. Als Interpret bin ich mitten im Geschehen, was mir oft unmöglich macht, zu sehen, wie die Dinge tatsächlich wirken. Ich kann also nicht mit der Herangehensweise „Ich habe immer Recht.“ arbeiten. Es kommt vor, dass mir etwas einfällt und der Regisseur sagt: „Das ist eine fantastische Idee.“ Genauso denke ich manchmal, dass etwas ganz toll ist und dann sehe ich mir eine Aufnahme an und das sieht vielleicht komisch aus!
Sie verfolgen eine überaus erfolgreiche Weltkarriere – auf der Bühne und in Tonstudios. Wer berät Sie in der komplexen Welt des zeitgenössischen Opernbetriebs – in Sachen Gesang, Kunst, aber auch Management?
Ganz zu Beginn war das meine Professorin Anna Radziejewska, bei der ich in Warschau studiert habe. Jetzt habe ich meinen Mentor Eytan Pessen, mit dem ich in der Opernakademie der Warschauer Nationaloper gearbeitet habe und der mir wirklich viel beigebracht hat, nicht nur den Gesang betreffend, sondern auch wie man in diesem Business überlebt. Dafür bin ich ihm wirklich sehr sehr dankbar und wann immer ich irgendwelche Zweifel habe, wende ich mich an ihn.
Und ich habe auch wirklich eine hervorragende Unterstützung im Team IMG Artists, durch meinen Generalmanager Matthew Horner, regelmäßig arbeite ich mit Markus Beam zusammen, dem Chef der Vokaldivision von IMG Artists. Sie sind nicht nur meine Manager, sondern auch Freunde. Wir diskutieren Strategien, sie versuchen, mich irgendwie zu verstehen und sich dem anzunähern, was ich möchte, und nicht, was die Musikindustrie verlangt. Und mein letzter, aber nicht weniger wichtiger Berater ist für mich der Pianist Michał Biel. Wir konzertieren nicht nur häufig zusammen, wir sind auch beste Freunde. Es kann darum locker passieren, dass er mir zu einem Angebot sagt: „Nein, das ist Blödsinn, vergiss es Jakub!“
Aber Sie sind derjenige, der das letzte Wort hat.
Ja, und ich muss hinsichtlich all dieser Dinge sehr umsichtig sein. Am wichtigsten ist, sich das richtige Repertoire zu wählen. Nähme ich etwas an, was nicht zu meiner Stimme passt, etwas zu hohes oder zu tiefes, würde ich mir nicht nur meine Stimmer verderben, sondern auch den guten Namen, den ich mir bisher aufgebaut habe, was wiederum unnötige Mühen mit sich brächte. Sich das richtige Repertoire auszusuchen ist wirklich das Grundlegende.
Sie haben von einer Zusammenarbeit mit Unternehmen gesprochen, um sich Geld für das Studium zu verdienen. Setzen Sie die Arbeit in diesen Bereichen auch jetzt fort?
Ja, zum Beispiel in Polen mit dem Autohersteller BMW, der sich hier stark für die Unterstützung von Kunst engagiert. Sie unterstützen alle größeren Konzertsäle und Opernhäuser, stellen Wagen für die Künstler zur Verfügung, veranstalten eigene Events. Vor einigen Jahren gründete BMW einen Art Club, mit dem ich zusammenarbeite, derzeit bin ich „Freund der Marke“. Ich habe auch enge Verbindungen zu Hugo Boss, die sich um meine Konzertkleidung kümmern. Aber ich verbinde mich nur mit Marken, die meinen Visionen, meinem künstlerischen Profil und der Botschaft entsprechen, die ich teilen möchte.
Wie sieht Ihr Alltag aus?
Gewöhnlich verbringe ich viel Zeit am Computer. Ich bin freischaffend, was eine Menge Organisationsarbeit mit sich bringt. Ich produziere Videoclips und auch eine Menge anderer Projekte, die parallel zur selben Zeit ablaufen. Es geht nicht nur um Konzerte, ich denke mir Programme für die nächste Saison aus, Aufnahmeprojekte, ich entdecke gern neue Musik. Ich nehme nicht gern Sachen auf, die ich schon mal irgendwo gehört habe. Mein sehr guter Freund Yannis François sucht neue Kompositionen für mich, die wir proben, editieren und ich singe dann die Uraufführungen. Es existieren also noch keine Aufnahmen davon. Es gibt Dutzende und Dutzende von Projekten, an denen ich parallel arbeite. Mein dicht beschriebener „Must-Do“-Block enthält Hunderte und Aberhunderte von Dingen, vom Versenden von Dokumenten an meinen Steuerberater bis zum Ausfüllen von Papieren und Verträgen, einfach Hunderte von Aufgaben, die ich irgendwie lösen muss. Tatsächlich ist Singen der am wenigsten anstrengende Teil meiner Agenda. Wirklich!
Wie erhalten Sie Ihre physische und stimmliche Kondition?
Manchmal gehe ich in mein Studio und verbringe dort vielleicht acht Stunden. Weil ich dort unglaublich gern bin! Nicht, dass ich acht Stunden singen würde, aber ich wärme mich auf, singe mich ein, dann gehe ich auf einen guten Kaffee und ein Stück Torte in mein Lieblingscafé, weil ich Torte liebe, dann gehe ich zurück und übe, dann spiele ich ein Weilchen Klavier, dann denke ich über etwas nach, ich lese etwas, ich übe wieder, ich gehe zum Mittag- oder Abendessen, ich liebe es einfach, genug Zeit für Dinge zu haben. Ich bin gerade in Warschau und genieße das Gefühl, jetzt Rad fahren zu können oder meine Gruppe zu sehen und mit ihnen eine Weile Breakdance zu trainieren. Ich übe, tanze, studiere jeden Tag Partituren, aber alles kann sich ändern und angepasst werden.
Und wie entspannen Sie?
Ich liebe meine Couch. Ich habe gleich zwei. Und ich liebe das Bild meines Vaters. Es tut mir sehr gut, es zu betrachten, es entspannt mich. Im anderen Zimmer haben ich wiederum ein Bild meiner Mutter. So entspanne ich. Und auch, während ich Breakdance trainiere. Das ist für mich so etwas wie Meditation. Wenn ich viele Konzerte habe oder eine besonders intensive Probenphase, hilft es mir, meine Gedanken zu verfeinern, mich zu konzentrieren und den Überblick zu behalten, anstatt von ihnen verschluckt zu werden. Denn manchmal, wenn sich das alles über mir zusammenhäuft, und sehen Sie sich die drei dicht beschriebenen Seiten in meinem Block an, dann fangen all die Verpflichtungen einfach an, mich platt zu walzen.
Manchmal schaue ich auf mein „must do“ und sage mir, dass ich das niemals schaffen kann! Ich beginne, in einen Abgrund zu fallen und es kommt eine Tendenz auf, alles aufzugeben. In diesem Moment raufe ich mich zusammen und sage mir: „OK, Jakub, langsam, nacheinander, Schritt für Schritt“, und ich setze mich auf das Fahrrad oder gehe tanzen oder schließe mich in mein Studio ein und spiele auf dem Klavier die vier Akkorde hoch und runter, die ich kann – ich bin kein Pianist – oder ich improvisiere, schließe die Augen und meditiere. Das hilft mir wirklich sehr, mich zu beruhigen und zu entspannen.
Haben Sie ein künstlerisches Ziel oder eine Traumrolle, die Sie erreichen möchten?
Ich habe aus Prinzip keine Erwartungen. Wie gesagt, ich gehe einfach Schritt für Schritt, slowly going.
Interview, geführt von Helena Havlíková