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Interview mit ELENA STIKHINA. Betreff „Regietheater“: Manchmal müssen auch Fehler passieren, um Neues zu kreieren

30.09.2025 | Sänger

Interview mit ELENA STIKHINA (geführt von Susanne Sonntag)

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Elena Stikhina. Copyright: Daria Valetova

Die Spinto-Sopranistin, im russischen Lesnoy geboren, debütierte 2014 in Wladiwostok als Nedda bevor sie Ensemblemitglied in St. Petersburg wurde. Nach ihrer Teilnahme beim Operalia-Wettbewerb wurde sie 2017 für die Pariser Oper als Einspringerin für Anna Netrebko als Tatjana engagiert und begeistert seither mit gefühlsvoller Ausdruckskraft, warmen, weichen Timbre und kraftvoller, aber stets geschmeidiger Stimme. Die Autorin und das österreichische Publikum konnten sich von diesen Vorzügen bei den Salzburger Festspielen (Rollendebüt als Maddalena) und bei ihren eindrucksvollen Wiener Interpretationen als Tosca und Iolanta, wo sie an Stelle der erkrankten Sonya Yoncheva brillierte, überzeugen. Das Interview wurde in einem Ringstraßenhotel auf Englisch geführt, wo die äußerst sympathische Sängerin sehr offen über sich, Erlebnisse an den wichtigsten Opernhäusern weltweit, über ihre Familie und das Regietheater erzählt:

Wie war es für Sie, bei „Tosca“ an der Wiener Staatsoper gestern (25.9.2025) so kurzfristig ohne Bühnenbild (Anmerkung: der Schnürboden hatte ein technisches Problem und so wurde der 2. Akt nur konzertant aufgeführt) aufzutreten?

 Es war sehr stressig für mich, obwohl ich es natürlich gewöhnt bin, konzertant aufzutreten. Aber durch den Vorhang – so nahe hinter uns – hören wir die Akustik überhaupt nicht. Es ist, als würde man ins Nirgendwo hineinsingen – es kommt kein Ton zurück. Aber ich bin immer sehr flexibel und es hat zum Glück funktioniert. Meine Mutter war auch in dieser Vorstellung und sagte, dass die wichtigsten Personen im Theater scheinbar die Techniker wären…wir können ohne sie nicht einmal den Vorhang heben.

Was war der schönste Moment in „Tosca“?

Mein bester „Tosca“-Moment ist stets, wenn ich die Krone tragen darf. Jedes Mädchen möchte einmal im Leben eine Prinzessin sein (wir lachen)

Wie schwierig ist ein spontanes Einspringen wie als Iolanta?

 Ich musste mich erst wieder in diese Rolle eingewöhnen, da ich sie zuletzt vor etwa 14 Jahren am Konservatorium einstudiert und gesungen habe. Mit Iolanta hatte ich also eine lange Pause – es wird auch selten gespielt – aber ich wollte diese wunderschöne Oper unbedingt singen und ich nenne sie immer „opera oratoria“, weil eine Arie nach der anderen folgt, was gar nicht so leicht zu singen ist. Tschaikowskis Musik ist jedoch einfach herrlich und deshalb freue ich mich auch sehr auf mein nächstes Debüt in Amsterdam in „Orleanskaya Deva“ im November. Es ist die Geschichte von der „Jungfrau von Orleans“, die für Sopran sehr schwierig zu singen ist und leider auch sehr selten aufgeführt wird.

Was war das kurzfristigste Einspringen für Sie?

 In Russland sprang ich für Maria Gulehina als Tosca ein und man erreichte mich erst eine halbe Stunde vor der Vorstellung, da ich oft den Klingelton vom Mobiltelefon ausschalte, um Ruhe zu haben. Es war schwierig, rechtzeitig vor Ort zu sein und zusätzlich gab der Tenor an diesem Abend sein Cavaradossi-Debüt und war mit der Produktion nicht vertraut – ich wusste auch nicht, wie er mit mir agieren würde. Maria blieb noch im Theater, um mich zu hören und sagte mir nachher, dass alle Kolleginnen, die sie vertreten haben, große Karrieren machten – wie damals auch Sondra Radvanovsky. Man muss immer improvisieren, so ist das Leben und mein Motto ist: „Who is taken no risk, no champagne…”

Wie kamen Sie als Kind in Russland zur klassischen Musik?

Ich spielte an einer Musikschule Klavier mit 7 Jahren, also ich war sehr jung, aber ich mochte es nicht. Mit 15 Jahren lernte ich meine erste Lehrerin kennen und sie konnte mit Aufnahmen von Pavarotti und Domingo meine Leidenschaft für klassische Musik und den Gesang wecken und mich inspirieren. Wenn man diese Hingabe nicht hat, sind die negativen Aspekte des Berufs, wie die Trennung von der Familie, das viele Reisen und immer gesund bleiben zu müssen, nicht bewältigbar. Es ist in der heutigen Zeit im Vergleich zur Vergangenheit auch schwieriger, weil alles aufgezeichnet wird, der Druck dadurch höher ist und Fehler nicht mehr erlaubt sind. Heute ist es nicht nur eine Oper, es hat eine Show zu sein mit großen Anforderungen auch an unsere Darstellungskunst, nicht nur an den Gesang.

Ist es sehr herausfordernd für Sie, innerhalb von einem Monat so unterschiedliche Frauenfiguren wie die blinde Prinzessin Iolanta, die Adelige Maddalena und die leidenschaftliche Tosca zu singen?

Es ist nicht so schlimm, weil z.B. nach dem großartigen, hymnenartigen Schlussduett von „Andrea Chénier“ gibt es keinen Moment zum Traurigsein. Es ist das allerschönste, heroischstes Duett auf der Welt! So, wenn man die Rollen und die Musik liebt, ist es nicht zu schwer.

Können Sie sich mit diesen Frauen identifizieren? Gibt es Parallelen zum eigenen Charakter und ist dies überhaupt notwendig, welche zu finden?

Ich versuche stets, ich selbst zu bleiben und stattdessen wirklich zu verstehen, warum diese Frauen so handeln. Wenn man das nicht macht, kann auch nichts erzählt werden und niemand wird einem glauben, was du singst und darstellst. Ich muss mich in meiner Rolle wohlfühlen, sonst kann ich nicht das Vertrauen des Publikums gewinnen. Alles im Theater muss wahrhaftig sein wie z.B. bei Tosca, wo es vor allem um die Chemie und die Gefühle zwischen ihr und Cavaradossi geht: nur weil sie eifersüchtig ist, und er ihr im 1. Akt nicht die Wahrheit sagt, kann die ganze Handlung so weitergehen, wie wir die Oper kennen – es ist Marios Schuld, sonst würde es keinen 2. Akt mehr geben. Prinzipiell bin ich eine andere Person als Tosca oder Iolanta, würde nie so agieren wie sie und wir leben auch in anderen Zeiten – zum Glück! Für die Vorstellungen nehme ich also Teile meiner Rollen speziell für mich und will nicht eine Tosca wie die Callas oder die Caballé als Norma „nachinterpretieren“. Ich will meinen eigenen Weg finden, um mich auf der Bühne sicher zu fühlen und authentisch zu sein. Da ich gar nicht gut lügen kann –mein Ehemann ist sehr glücklich darüber – wäre es für mich nicht möglich, unehrlich zu sein und nur zu spielen. Das ist mein Weg als Opernsängerin, der erfolgreich ist!

Soprane sind oft leidende Frauen und sterben zuletzt meistens. Wie und wie schnell ist für Sie möglich, um wieder von der Bühne zu ihrem normalen Leben zurückzufinden?

Sehr, sehr schnell. Sobald ich aus der Oper gehe, bin ich aus meiner Rolle, weil ich darauf achte, nicht zu Hause zu lernen und zu denken – ich will meine Arbeit, die ich sehr liebe und meine Familie exakt trennen. Wenn ich meine Partien daheim einstudieren würde, könnte ich nicht schlafen, weil es in meinen Gedanken immer und immer weitergehen würde.

Bleibt Ihnen Zeit für ein Privatleben? Wo haben Sie derzeit Ihren Wohnsitz?

Es bleibt nur wenig Freizeit, die ich meistens mit meiner Familie verbringe – wir leben seit zwei Jahren in Zürich. Viel können wir von Kindern lernen: sind so neugierig und glücklich über die kleinen Dinge des Lebens!

Welche Sprachen sprechen Sie inzwischen?

Fließend nur Russisch und Englisch, am Konservatorium habe ich Italienisch gelernt, aber nun lerne ich Deutsch, weil ich es im deutschsprachigen Raum brauche und in Zürich gut praktizieren kann. Wenn ich ein Angebot für „Margarethe“ bekomme, verspreche ich, Französisch zu lernen.

Gibt es Traumrollen?

Ich wollte schon immer „Norma“ singen. Mein Debüt in Boston wurde leider wegen Covid abgesagt, aber zum Glück werde ich sie im nächsten Sommer an der Bayerischen Staatsoper erstmals geben (Anmerkung: mit Giacomo Sagripanti und Aigul Akhmetsina). Auch konnte ich wegen Covid nicht als Adriana Lecouvreur debütieren – diese Rolle wünsche ich mir ebenso wie Margarethe in Faust, weil es wunderschöne Musik ist und gut zu meiner Stimme passt.

Was ist mit Verdi?

Ich kann mir Violetta gut vorstellen und vor allem Desdemona. Aida ist auch interessant, obwohl es schwierig ist, weil die Partie sehr dramatisch startet und zuletzt immer lyrischer wird. Für mich ist es umgekehrt einfacher – wie z.B. in Pique Dame.

Wie studieren Sie neue Rollen ein?

Es ist unterschiedlich. Wenn ich nur noch wenig Zeit bis zur Produktion habe, muss das Rollenstudium intensiver zwischen allen meinen Auftritten werden, aber das Ziel ist nahe – wie beim Sport, wo man sich gezielt auf einen Wettkampf vorbereitet. Das bevorzuge ich gegenüber lernen für die ferne Zukunft, dann wieder die Partitur wegzulegen und irgendwann wieder die Noten hervorzuholen, um weiter einzustudieren.

Wie schwer ist für Sie, Gefühle der Bühnenfiguren dem Publikum zu übertragen?

Das Wichtigste für mich transportiere ich über meine Stimme und die Aussagen der Musik. Der Ausdruck des Gesichts ist in großen Opernhäusern ohnehin nicht gut sichtbar. Die Darstellungskraft der Gestik kommt automatisch mit meinem vokalen Ausdruck. Nur zu spielen ohne gefühlvolle Stimme ist nicht möglich für mich.

Wer ist Ihr Lieblingskomponist und was würden Sie ihn fragen, wenn dies möglich wäre?

Ich habe nicht einen Lieblingskomponisten, aber Tschaikowski und Puccini verehre ich sehr, ebenso Verdi und Richard Strauss. Wenn ich sie treffen könnte, würde ich bitten, noch mehr Opern zu schreiben, weil speziell die ersten zwei Musiker Rollen für genau meine Stimme schrieben.

Wie kommen Sie mit dem Regietheater zurecht?

Es kommt darauf an. Manchmal müssen auch Fehler passieren, um Neues zu kreieren. Wie oft hat Picasso seinen Stil geändert und nicht alles war gut. Aber seine Kunst hat schlussendlich die Menschen berührt. Ein gutes Beispiel ist auch die Pariser „Salome“-Produktion; da war so viel Blut auf der Bühne, es war ekelhaft und ich war – als Zuseherin – zuerst total schockiert. Die Regisseurin Lydia Steier ist smart und wollte zeigen, wie grausam und schrecklich die Geschichte in Wirklichkeit ist – mit Inzest und Vergewaltigung einer 13-jährigen, die sie verrückt machen muss – „Salome“ ist nicht ein Märchen mit Liebe und Leidenschaft. Natürlich wollen Opernbesucher oft etwas Schönes sehen, weil das reale Leben schwer ist, aber Theater soll eine Reflexion unserer Welt sein.

An welche modernen Produktionen denken Sie noch gerne zurück?

An eine aufregende Züricher „Manon Lescaut“ mit Barrie Kosky, weil er nicht nur gebildet und intelligent ist, sondern auch die Musik liebt und großen Respekt vor den Sängern hat – wir alle haben es geliebt, mit ihm zu arbeiten. Die am „most far broken“-Aufführung war für mich „Suor Angelica“ in Amsterdam letztes Jahr, weil sie nach dem Besuch der principessa allein auf der Bühne ist und sich mit der Asche ihres Kindes übergießt (Anmerkung: bei dieser Erzählung und der Vorstellung dieser Szene bekommt man die Gänsehaut und feuchte Augen). Wenn Regietheater so gestaltet wird, funktioniert es. Man kann Opern in die heutige Zeit transferieren, wenn es in einem passenden Kontext gezeigt und alles verstanden wird. Der Regisseur und das kreative Team dürfen nicht nur eine einzige Idee haben, sie müssen die Geschichte mit mehreren Aspekten öffnen, sie gestalten und dann dem Publikum zeigen – es ist eine Entwicklung – zusammen mit den Sängern. So kann auch neues Publikum in die Oper gelockt werden – wie derzeit Koskys „Tosca“-Produktion in Amsterdam, wo der 2. Akt in einer Küche spielt, alles sehr realistisch ist – inklusive abgehackten Fingern von Cavaradossi – und alle Vorstellungen ausverkauft sind – auch jüngere Gäste kommen. Aber klassische Inszenierungen wie die Wiener Tosca müssen ebenfalls gespielt werden – alles soll nebeneinander existieren, wenn die Geschichte richtig erzählt wird.

 

Liebe Elena! Das Wiener Publikum darf sich im Mai 2026 auf Ihre „Salome“ freuen und die Autorin dankt für das offene Gespräch aus ganzem Herzen und wünscht für die private und künstlerische Zukunft nur das Allerbeste!

 

Susanne Lukas

 

 

 

 

 

 

 

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