„Aus einem Marmorblock einen Diamanten schleifen…“ Ekaterina Levental und Frank Peters im Gespräch zu dritt über ihre Medtner-Entdeckung
Foto: Levental/ Peters
Mit beeindruckender Hingabe haben die Mezzosopranistin Ekaterina Levental und der Pianist Frank Peters ein musikhistorisches Mammutprojekt verwirklicht: Die weltweit erste Gesamteinspielung aller 108 Lieder des russisch-deutschen Komponisten Nikolai Medtner (1880-1951). Das bei Brilliant Classics erschienene fünfteilige Album dokumentiert ein siebenjähriges künstlerisches Abenteuer und erschließt erstmals umfassend Medtners vokales Œuvre in Originaltonarten.Der von Rachmaninoff als „größter lebender Komponist“ gerühmte Medtner schuf Lieder von außergewöhnlicher emotionaler Tiefe. Seine Vertonungen deutscher Dichter wie Goethe, Nietzsche und Hesse sowie russischer Poeten wie Puschkin und Lermontow verbinden meisterhaft ost- und westeuropäische Traditionen. Dennoch geriet sein Werk – bedingt durch Emigration nach der Russischen Revolution und sowjetische Zensur – jahrzehntelang in Vergessenheit. Was treibt zwei Interpreten an, eine solche kulturhistorische Entdeckungsreise zu unternehmen? Wie transformiert die Begegnung mit dieser Musik das eigene künstlerische Selbstverständnis? Ein Gespräch über verborgene Schätze, musikalische Brücken zwischen Kulturräumen und den tiefen Widerhall von Medtners Credo: „Wir erschaffen nichts, wir entdecken nur, was bereits existiert.“
Was entzündete Ihre Faszination für Medtners Musik?
Frank Peters: Durch meine Rachmaninow-Begeisterung stieß ich in den 1980ern immer wieder auf Medtners Namen. Als ich entdeckte, dass Rachmaninow sein viertes Klavierkonzert diesem Kollegen widmete, begann meine Suche. In der Vor-Internet-Zeit führte sie mich bis in die Sowjetunion, um Partituren aufzuspüren. Medtners Musik erschließt sich nicht sofort, fordert aber mit einer Tiefe, die mich seit meiner Jugend nicht mehr losließ.
Ekaterina Levental: Meine Begegnung war wie ein Blitzschlag. Als Frank mir vor acht Jahren vorschlug, zwei Medtner-Lieder zu studieren, erlebte ich mit „Winterabend“ – einem Text aus meiner sowjetischen Kindheit – eine Offenbarung: Hier hatte jemand eine musikalische Sprache für tiefste, noch unausgesprochene Emotionen gefunden. Es war, als hätte ich einen Seelenverwandten entdeckt. Sofort wussten wir: Diese verborgenen Schätze müssen zugänglich werden.
Was macht Medtners Klangsprache so einzigartig?
Ekaterina Levental: In einer Zeit künstlerischer Extreme schuf Medtner einen dritten Weg: Aus bekannten Elementen formte er etwas völlig Eigenes. Seine Musik komponiert nicht über Emotionen – sie verkörpert sie. Diese Authentizität veränderte auch mich als Künstlerin grundlegend und lehrte mich, dass wahre Interpretation nie an der Oberfläche verharren darf.
Frank Peters: Medtner begreift das Klavier als philosophisches Medium. Seine Klavierbehandlung verbindet höchste Komplexität mit natürlicher Eloquenz. Seine ausgereifte musikalische Sprache meidet sowohl modische Experimente als auch bequeme Wiederholung. Die eigentliche Revolution seiner Musik liegt in ihrer inneren Integrität – einem lebenslangen Dialog mit musikalischer Wahrheit, unberührt von äußeren Erfolgsmaßstäben.
Wie gestaltete sich Ihre Reise durch Medtners Liedkosmos?
Frank Peters: Unser Weg folgte intuitiven und strukturellen Prinzipien. Wir begannen mit den russischen Liedern – chronologisch auf den ersten drei CDs, gefolgt von den deutschen auf der vierten, bevor die fünfte verschiedene Ausdrucksformen vereint. Bereits im frühesten russischen Zyklus findet sich ein übersetztes Goethe-Gedicht – erste Manifestation seiner kulturellen Brückenfunktion. Die abschließende CD bildet den Kulminationspunkt, indem sie verschiedene Sprachen und Stile in organischer Einheit zusammenführt – ein klingendes Testament seiner künstlerischen Vision.
Welche kulturelle Bedeutung trägt Medtners Werk?
Frank Peters: Medtner verkörpert eine fast vergessene Dimension europäischer Kulturgeschichte: die tiefe Verflechtung zwischen russischer und deutscher Geistestradition. Mit deutschen Wurzeln in Russland geboren, repräsentiert er eine Synthese, die heute durch politische Grenzen verstellt scheint. Seine Familie lebte in einer Welt, wo deutsche Philosophie und Musik gleichberechtigt neben Puschkin und Tschaikowsky rezipiert wurden. Diese kulturelle Mehrsprachigkeit prägt sein Schaffen nicht als oberflächliche Stilmischung, sondern als authentische Verkörperung eines integrativen europäischen Geistes.
Welche Dimension eröffnen Medtners Nietzsche-Vertonungen?
Ekaterina Levental: Diese Begegnung war existenziell. Nietzsches Fähigkeit, in scheinbar einfachen Worten Abgründe zu öffnen, findet in Medtner ihren kongenialen Interpreten. Bei „Altmütterlein“ – vordergründig die Betrachtung einer alten Frau am Fenster – formt er eine klingende Meditation über Zeit und menschliche Existenz. In jedem Ton schwingt die Frage nach unserem Dasein mit, ohne je in Sentimentalität zu verfallen.
Frank Peters: Hier verbindet sich Medtners Nietzsche-Affinität mit seiner Goethe-Verehrung. Beide Dichter streben nach einer Sprache, die in scheinbarer Einfachheit universelle Wahrheiten berührt. Medtner erkannte diese Verwandtschaft und schuf musikalische Entsprechungen, die eine geistige Linie vom 18. ins 20. Jahrhundert ziehen.
Was bedeutet die Metapher des „Diamantenschleifens“ für Ihr Medtner-Verständnis?
Ekaterina Levental: Ein Diamantschleifer erkennt die inhärente Struktur im Rohdiamanten und bringt sie durch präzise Arbeit zum Vorschein. So verstehe ich Medtners Prozess: Er erfindet keine willkürlichen Strukturen, sondern lauscht tief in Texte hinein, erfasst ihre Essenz und findet jene Klänge, die diese Wesenhaftigkeit zum Leben erwecken. Diese Erkenntnis revolutionierte meine Interpretation – von technischem Verständnis zur Suche nach tieferer Intention. Medtners wichtigste Lektion war für mich die Einsicht, dass wahre künstlerische Arbeit Demut erfordert – das Bewusstsein, nicht Schöpfer, sondern Entdecker eines bereits vorhandenen Ausdrucks zu sein.
Welche neuen Horizonte öffnen sich nach diesem Projekt?
Frank Peters: Paradoxerweise stehen wir nicht am Ende, sondern an einem neuen Anfang. Jetzt erst beginnen wir, die volle Tiefe dieser Musik zu erfassen. Unsere Live-Aufführungen – oft im Dialog mit Rachmaninow – offenbaren ständig neue Facetten und Verbindungen. Die Aufnahmen bilden das Fundament, aber die eigentliche kulturelle Mission erfüllt sich im unmittelbaren Austausch mit dem Publikum, in jenen Momenten geteilter Erkenntnis, wenn Zuhörer erstmals die transformative Kraft dieser Musik erleben.
Welche zeitlose Botschaft trägt Medtners Musik für unsere Gegenwart?
Frank Peters: In einer Epoche der Kategorisierungen verkörpert Medtners Kunst eine fundamentale Wahrheit: Authentischer künstlerischer Ausdruck transzendiert Zeit, Ort und kulturelle Zugehörigkeiten. Seine Aussage „Wir erschaffen nichts, wir entdecken nur, was bereits existiert“ offenbart eine tiefe Demut vor dem künstlerischen Prozess – Kunst nicht als Selbstdarstellung, sondern als Öffnung für etwas Größeres.
Ekaterina Levental: Diese Haltung hat mich tiefgreifend verändert. Wie Michelangelo überzeugt war, dass in jedem Marmorblock bereits eine Skulptur verborgen liegt, revolutioniert Medtners Ansatz unseren Kunstbegriff in einer Zeit von Ego und Originalitätszwang. Die große Kraft in seiner Musik liegt in ihrer Fähigkeit, uns anders hören, sehen und sein zu lehren. In scheinbar einfachen Momenten – der alten Frau am Fenster, dem stillen Waldweg – offenbart sich plötzlich eine Welt von tiefer Bedeutung, wenn wir bereit sind, wahrhaft hinzuschauen. Diese Kunst der vertieften Wahrnehmung ist Medtners kostbarstes Geschenk an unsere zerstreute Zeit.
Das Gespräch führte Stefan Pieper. Die fünf CDs des Medtner-Projekts sind bei Brilliant Classics erschienen.