Innsbruck (TLT – Kammerspiele): „DES SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS JUGEND“ 22.3.2024 – erschreckend aktuell
Eleonore Bürcher (Erzählerin). Foto: Birgit Gufler
Aus dem opernmäßig eher mageren Spielplan der neuen Intendanz von Irene Girkinger ragt diese Produktion qualitativ haushoch heraus. Der Münchner Komponist Karl Amadeus Hartmann (1905 – 1963) schrieb auf Anregung des bedeutenden Dirigenten Hermann Scherchen eine Oper über die Schrecken des 30jährigen Krieges. Als Vorlage dazu dienten die ersten Kapitel von Hans Christoffel von Grimmelshausens Schelmenroman „Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch“ aus dem Jahr 1668, einem der bedeutendsten Romane des deutschen Barocks. Die im Spessart angesiedelte Handlung erzählt die Lebensgeschichte des naiven Jungen Simplicius Simplicissimus während der Jahrzehnte währenden Kriegswirren im 17. Jahrhundert, welches Deutschland beinahe entvölkerte. Von 12 Millionen Menschen zu Kriegsausbruch überlebten nur 4 Millionen das sinnlose Gemetzel. Mit dem „Simplicius Simplicissimus“ schuf Hartmann eine beklemmende Kammeroper und indirekt eine Anklage gegen das NS-Regime – was zur Folge hatte, dass Hartmanns Werke als „entartet“ abgestraft wurden. Erst nach dem 2. Weltkrieg konnte die Oper der Öffentlichkeit vorgestellt werden – zuerst konzertant beim Bayrischen Rundfunk (2.4.1948), eineinhalb Jahre später szenisch an den Bühnen der Stadt Köln. Eine Überarbeitung mit Straffungen des gesprochenen Textes sowie einigen musikalischen Ergänzungen nahm der Komponist einige Jahre später vor, mit neuem Titel ging die Oper erstmals am 2.7.1957 in Mannheim über die Bühne. Fast alle weiteren Produktionen bis in die Gegenwart bedien(t)en sich der Zweitfassung.
Für die österreichische Erstfassung griff das TLT auf die Urfassung zurück und engagierte dafür ein international anerkanntes Regieteam, angeführt von Eva-Maria Höckmayr und Ralph Zelger, verantwortlich für Bühne und Kostüme. In zeitlos bestürzenden Bildern (ohne Videosequenzen!) wurde die Verrohung der Menschen in Kriegszeiten erschütternd aufgezeigt. Besonders die Bankettszene im 3. Teil ging an die Nieren – der Gouverneur und seine entmenschte Soldateska feiern neben und auf Leichenbergen ihr Saufgelage.
Florian Stern (Einsiedel) und Marie Smolka (Simplicius). Foto: Birgit Gufler
Der Regisseurin stand ein exzellentes Solistenensemble zur Verfügung, das deren Instruktionen perfekt umzusetzen wusste. Die seit dieser Spielzeit dem Ensemble des TLT angehörende Sopranistin Marie Smolka (Titelrolle) sowie die seit 1981 aus dem Theaterleben nicht mehr wegzudenkende Eleonore Bürcher (Erzählerin) vollbrachten ein Mirakel an totaler Rollenidentifikation. Alleine Smolkas schauspielerische Leistung als quasi menschliche Marionette vor Einsetzen ihres Gesangparts verdient Bewunderung. Mit ihrer zarten, zerbrechlich wirkenden Figur, ihren großen, fragenden Augen und dem zu Herzen gehenden Gesang ist sie das Ideal des anfänglich unbedarften, im Laufe der Handlung zum Wissenden werdenden Titelhelden. Über die Nestroy-Preisträgerin Eleonore Bürcher erneut Worte des Lobes zu verfassen, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Ihre starke Ausstrahlung, ihre Sprachkultur und der cellogleiche Klang ihrer raumfüllenden Stimme fesseln stets aufs Neue. Glückliche Fügung, dass sich die beiden Damen figürlich so ähnlich sind. Die sich beinahe ins Heldische aufschwingenden Töne des Einsiedel (und in späterer Folge des Gouverneurs) bereiteten dem allmählich in dieses Fach hineinwachsenden Florian Stern keinerlei Probleme. Die baritonalen Neuzugänge Benjamin Chamandy (Landsknecht) und Nikita Voronchenko stellten dem Haus ein ebenso gutes Zeugnis aus wie jene des mit einem Edelbass gesegneten Oliver Sailer (Feldwebel / Bauer). Eigens für diese Produktion wurde eine externe, aus 14 Sängern bestehende namenlose Chorformation angeheuert – und das, obgleich sowohl Chor als auch Extrachor des Hauses in dieser Spielzeit nicht gerade übermäßig oft zum Einsatz kommen. Aber die singschauspielerische Leistung des Gastchores verdient ebenso Anerkennung wie jene des aus 16 Solisten bestehenden Orchesters namens „TENM“ (Tiroler Ensemble für Neue Musik) unter der schon mehrfach bewährten Stabführung von Hansjörg Sofka. Mit Umsicht und dem Wissen um die dem Inhalt der Vorlage angepasste Musik Hartmanns mit ihren Anklängen an Werke von Prokofieff, Strawinsky und Borodin, teils satirisch-grotesk verzerrt, wusste er das gebannt lauschende Publikum zu fesseln. Nach Verklingen des letzten Taktes herrschte langes, betretenes Schweigen im Saal, bevor begeisterter, für die Damen Smolka und Bürcher jubelnder Applaus einsetzte. Nur noch an 4 Terminen ist diese außergewöhnliche Produktion zu sehen: 3., 5., 11. und 20.4. – nicht versäumen!
Dietmar Plattner
PS: Für die Saison 2024/25 sind am TLT folgende Opern vorgesehen: „Falstaff“, „Der Rosenkavalier“, „La Clemenza die Tito“, „Eugen Onegin“, „I Pagliacci“ gekoppelt mit Schönbergs „Von heute auf morgen“ sowie zu Saisonbeginn Friedrich Haas zur OEA gelangendes Werk „Liebesgesang“. Dazu gesellen sich Premieren von „Hair“, die spartenübergreifende Produktion der Purcell’schen Semi-Oper „King Arthur“, das Operettenweltschmerztheater „Schön ist die Welt“ (nicht ident mit Lehárs Meisteroperette) sowie „Im Weißen Rössl“. Also ein deutliches Mehr an großer Oper als in der laufenden Saison!