Innsbruck/ Tiroler Landestheater: „BORIS GODUNOW“ 25.3. 2023– Herausforderung angenommen und glänzend bewältigt . Premiere
Annina Wachter (Xenia), Irina Maltseva (Feodor), Ivo Stanchev (Boris). Foto: Birgit Gufler
Aus der Fülle von Fassungen von Modest P. Mussorgskys Meisterwerk – erwähnt seien die „Urfassung“ von 1869, danach die vom Komponisten überarbeitete und erweiterte „Originalfassung“ von 1872, weiters jene Bearbeitung durch Nikolai Rimsky-Korskakow, welche maßgeblich zur weltweiten Verbreitung des Werkes beitrug, sowie jene von Dimitri Schostakowitsch,von 1939, welche eine komplett neue Orchestrierung aufweist) – entschied sich die Theaterleitung für die Innsbrucker Erstaufführung dieses Meilensteines der Operngeschichte für die spröde, ungeschönte Urversion des damals 30jährigen, hochbegabten Komponisten. Mussorgsky, einer alten russischen Adelsfamilie entstammend, zählte zu den Hoffnungsträgern der russischen Musik und sollte diese bis zu seinem frühen Tod 1881 auch maßgeblich beeinflussen. Mit seinen Kollegen Mili Balakirew, Alexander Borodin, César Cui und Nikolai Rimsky-Korsakow zählte er zum „Mächtigen Häuflein“, das regen Austausch zu den Themen Kunst, Philosophie und Politik pflegte.
Basierend auf Puschkins Drama „Boris Godunow“ verfasste der Komponist auch selbst das hochwertige Libretto zu dem von ihm genannten „musikalischen Volksdrama“, das die sieben Jahre der Regentschaft des Zaren Boris von 1606 – 1613 thematisierte. Bei der Uraufführung stieß das Werk auf wenig Gegenliebe, zu neuartig erschien der Obrigkeit die kühne, herbe Musiksprache. Auch das Fehlen einer dominierenden Frauenrolle wurde dem Komponisten vorgeworfen. Aber schlussendlich, nach vielen Um- und Bearbeitungen, schaffte es „Boris“ doch auf die Bühnen der Welt und ist seitdem aus dem russischen Kernrepertoire nicht mehr wegzudenken.
Die Wiedergabe dieser genialen, theaterwirksamen Oper – egal in welcher Version – stellt für jedes Opernhaus einen Kraftakt dar. Es war ein Glücksfall für das Innsbrucker Haus, dass der an allen großen Bühnen hoch geschätzte Oliver von Dohnany sich spontan bereit erklärte, kurzfristig für den vorgesehenen, leider erkrankten Kollegen einzuspringen und die Endproben mit dem Innsbrucker Orchester zu übernehmen. Unglaublich, zu welcher Spitzenleistung er das hochmotivierte, an allen Pulten vorzüglich besetzte Tiroler Symphonieorchester Innsbruck beflügeln konnte. Da passte jeder Ton, der Spannungsaufbau war stets gegeben, die Solisten und der Chor wurden nie zugedeckt. Zu Recht wurden Dohnany und das Orchester am Ende der Vorstellung am heftigsten bejubelt und gefeiert. Angestachelt von dem großartigen orchestralen Unterbau präsentierten sich auch die Chöre (Chor, Extrachor und Kinderchor des TLT) in bestechender Form. Chordirektor Michel Roberge sowie die für den Kinderchor verantwortliche Janelle Groos haben ihre Sängerschar optimal vorbereitet und zu einer Glanzleistung geführt.
Ivo Stanchev (Boris), Annina Wachter (Xenia), Susanna von der Burg (Xenias Patin), Irina Maltseva (Feodor). Foto: Birgit Gufler
Das Personenregister ist zwar umfangreich, doch die zentrale Rolle verkörpert eindeutig der Titelheld. Und mit der Verpflichtung des aus Bulgarien stammenden Bassisten Ivo Stanchev gelang dem TLT ein weiterer Glücksgriff. Ein noch junger Sänger mit prächtigem, bestens ausgebildetem Stimmmaterial war zu entdecken, der auch als Bühnenpersönlichkeit stets präsent beeindrucken konnte. Den Namen dieses Sängers sollte man sich merken! Großen Eindruck hinterließen die drei Tenöre Lukasz Zaleski (Fürst Schuisky), Florian Stern (Grigori) und vor allem der verdiente Dale Albright als berührender Gottesnarr, dem die Regie eine Art „Rattenfänger-von-Hameln“-Funktion andichtete. Verdienten Publikumszuspruch holten sich auch der stets prägnante, bühnenbeherrschende Joachim Seipp (Warlam), der von der Regie etwas blass gezeichnete, vokal jedoch glänzende Johannes Maria Wimmer (Pimen) sowie der vorzügliche Alec Avedissian (Schtschelkalow). Ein pauschales Lob ergeht an die Sänger der vom Komponisten nicht gerade umfangreich ausgestatteten Gesangsrollen: Annina Wachter (Xenia), Irina Maltseva (Feodor), Susanna von der Burg (Schenkenwirtin bzw. Xenias Patin), Sascha Zarrabi (Missail bzw. Leibbojar) sowie die Chorsolisten Stanislav Stambolov (Mikititsch bzw. Offizier der Grenzwache) und Jannis Dervenis (Bauer).
Der an allen großen Opernbühnen erfolgreiche und nun bereits zum 6. Mal am TLT gastierende Thaddeus Strassberger (unvergessen seine fabelhafte „Fanciulla“, seine packende „Pique Dame“ vor allem) verzichtete in seiner Arbeit als Regisseur und Ausstatter auf Tagespolitik und schuf ein zeitloses Sittenbild einer „Zeit der Wirren“. Der Künstler versteht es immer wieder, ein der Handlung angepasstes, bildstarkes Kolorit auf die Bühne zu stellen. Russland in seiner ganzen Pracht, aber auch in seinem Elend wird dem Zuschauer vorgeführt. Manchmal – überwiegend im 1. Teil des Abends (Pause nach dem 4. Bild – leider!) – hätte weniger mehr bedeutet, manche Aktionen wären entbehrlich gewesen oder unklar (Xenias Pirouetteneinlage während der Krönungsszene – dreht sie nun durch, weil der Papi soeben Zar geworden ist?). Auch war das Glockengeläute in diesem Bild eindeutig zu laut eingestellt, das TLT ist nicht die MET!). Umso eindrücklicher gelang hingegen der 2. Teil mit dem überragenden Boris-Darsteller und den klaren, starken Bildern. Etwas verwirrend das Finale: nach Boris Tod stimmt der auftretende, bzw. aus luftiger Höhe singende Gottesnarr sein trauriges Lied an. Statt es lautlos ausklingen zu lassen, ertönt ein orchestrales Nachspiel. Ohne dieser – zugegeben versöhnlich klingenden – Beigabe wäre es noch ans Herz gehender gewesen ….
Dale Albright (Gottesnarr)
Dale Albright (Gottesnarr). Foto: Birgit Gufler
Großer, betont herzlicher und langer Schlussapplaus für alle, Ovationen für Orchester, Stanchev und Seipp. Diese hätten sich auch die Chöre und deren Leiter verdient! Aber Mussorgsky ist halt schwerer verdaulich als ein Verdi oder Puccini! Liebhaber opulenter Roben, großer Emotionen, prachtvoller Chöre und vorzüglicher gesanglicher Leistungen des Solistenensembles sollten dieser bemerkenswerten, russisch gesungenen Produktion unbedingt ihre Aufmerksamkeit und Anerkennung schenken. Sie hat es sich redlich verdient.
Folgeaufführungen: 30.3., 1., 14., 23., 26., 28.4., 7., 10. und 12.5.
Dietmar Plattner