Leonora (Eleonora Bellocci) mit ihrem totgeglaubten Gatten Florestano (Paolo Fanale). Foto: Festspiele der Alten Musik/ Brigitte Gufler
„Leonora“ von Ferdinando Paër bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik (7., 9., 11. 8. 2020)
Die Geschichte von der treuen Frau, die sich in Männerkleidern als Schließer im Gefängnis verdingt, um ihren von einem verbrecherischen Direktor eingekerkerten Mann zu finden und zu retten, war um 1800 auf den europäischen Bühnen sehr beliebt (nach einer französischen Vorlage). Vor Beethovens Fidelio behandelten (mindestens) zwei italienische Opern den Stoff: Simon Mayrs Einakter L’amor coniugale (Die eheliche Liebe, Padua 1805) fand im Zuge der (kleinen) Mayr-Renaissance der letzten Zeit gelegentlich Beachtung, es gibt auch eine Aufnahme (bei Naxos, von 2008). Im Beethoven-Jahr nahm man sich in Innsbruck der Leonora von Ferdinando Paër (1771-1839) an, die 1804 in Dresden zur Aufführung kam; als Autor des Librettos wurde erst vor wenigen Jahren Giuseppe Maria Foppa identifiziert, der vor allem Farse, komische Einakter (auch für Rossini) schrieb.
Paër – ein Lieblingskomponist Napoléons, der ihn nach Paris engagierte – gehört der Komponistengeneration zwischen Mozart und Rossini an. Manches erinnert an den Komponisten der Zauberflöte, vor allem in der Musik Marcellinas, deren Rolle hier wesentlich größer ist als bei Beethoven, manche Crescendi und Koloraturarien verweisen auf Rossini voraus. Da sich Foppa genau wie Beethovens Librettisten eng an die französische Vorlage hält, stimmt der Gang der Handlung im wesentlichen mit Fidelio / Leonore überein, es gibt allerdings keinen Chor.
Wie viele andere Veranstaltungen waren die Innsbrucker Festwochen schon abgesagt, die Entscheidung, daß man doch würde spielen können, fiel verhältnismäßig spät. Leonora wurde nicht, wie ursprünglich geplant, szenisch, sondern konzertant gegeben. Das Orchester saß auf der Bühne (was den großen Vorteil hat, daß man den Dirigenten gut sehen kann), für die Sänger waren an der Rampe Stühle aufgestellt, aber in der „Szenischen Umsetzung“ von Mariame Clément agierten sie alle so lebhaft und spielfreudig, daß kaum jemand Bühnenbild und Kostüme vermißt haben dürfte. Selbst der Dirigent spielt mit: Wenn Pizzarro den Offizier mit dem Trompeter auf den Turm schickt, wendet er sich an Alessandro de Marchi, der ehrerbietig zuhört. Als Requisiten genügen ein paar Notenpulte (umgedreht deuten sie im II. Akt Florestanos Kerker an, ein besonders widerspenstiges Notenpult ist der Felsbrocken, der weggeschafft werden muß).
Eleonora Bellocci, Paolo Fanale. Copyright: Festwochen der Alten Musik
Fidelio einmal als italienische Oper zu hören, mit brillanten Koloraturen und viel Parlando, macht einfach Spaß! Florestanos Liebe zu Leonora scheint irdischer, sinnlicher als bei Beethoven. Auch hier hat er zu Beginn des II. Akts eine große Szene, die Paolo Fanale mit strahlendem Tenor wunderbar differenziert und lyrisch gestaltet. Die grazile Eleonora Bellocci ist eine Leonora, der man die Verkleidung als junger Bursche wirklich abnimmt; auch sie hat eine vierteilige, große Szene und bietet ein subtiles Rollenportrait. Die Partie der Marcellina ist kaum kleiner, und stellt technische Anforderungen, denen Marie Lys vollauf gewachsen ist. Daß die beiden Frauen im Finale Duett singen, ist nur folgerichtig, ihre Rollen sind hier beinahe gleichwertig.
Die Männer stehen ihnen kaum nach (nur Carlo Allemano als Pizzarro agiert vielleicht etwas zu grobschlächtig): Nicht nur Rocco, auch Giachino ist ein Baßbuffo. Renato Girolamis prachtvoller Rocco ist fast schon ein Don Bartolo – wenn er Marcellina und Giachino die Leviten liest, weil sie miteinander zanken, rühmt er sich: „Einen Mann meines Formats (un uom del mio calibro) kann nicht einmal der Teufel hereinlegen!“ – klingt das nicht wie Un dottor della mia sorte („Einen Doktor meinesgleichen“)? – Giachino denkt hier nicht daran, auf seine Marcellina einfach zu verzichten, er fordert sogar Pizzarro auf, ihren Heiratsplänen einen Riegel vorzuschieben! Eher als an Beethovens etwas melancholischen Pförtner erinnert er an Nardo in Mozarts Finta giardiniera, der sich von Serpetta nichts gefallen läßt. Luigi De Donato macht aus der kleinen, aber dankbaren Rolle ein Kabinettstückchen.
Natürlich ist Paër nicht mit Beethoven zu vergleichen – besonders deutlich wird das noch einmal im, hier recht kurzen, Finale, bei dem man besser nicht an das grandiose „O Gott! o welch ein Augenblick!“ denken sollte. Trotzdem – ein sehr schöner Abend!
Albert Gier