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INGELHEIM/Rhein: KONZERTFRÜHLING – „CASANOVA“ oder die Freiheit des Willens

18.03.2018 | Konzert/Liederabende

Ingelheim am Rhein: Konzertfrühling – „CASANOVA – oder die Freiheit des Willens“  17.3.2018

 Seiner im Sommer 2017 eingeweihten Kultur-und Kongresshalle kING verdankt Ingelheim am Rhein die Idee des Konzert-Frühlings Ingelheim. Zur Eröffnung am 17.3. mit dem Programm „Casanova – oder: Die Freiheit des Willens“ haben sich der Schauspieler Sky du Mont und das Armida Quartett zusammengetan.  Nicht nur das Programm, auch die neue Halle verdient besondere Aufmerksamkeit.

Veranstalter ist das Rheingau-Musik-Festival, das sich damit dauerhaft in der 25000-Einwohner-Stadt 15 km westlich von Mainz zu etablieren scheint. Das ist ein bemerkenswerter Schritt. Denn von Ingelhein sind es zwar nur 4 km Luftlinie bis zum Sitz des Rheingau-Musik-Festivals in Oestrich-Winkel. Doch dazwischen liegt der an dieser Stelle reicht breite und nur per Fähre überquerbare Rhein. Er trennt nicht nur die beiden Städte, sondern auch zwei Landschaften und Weinbauregionen, seit 1949 mit Rheinland-Pfalz (linksrheinisch) und Hessen (rechtsrheinisch) auch zwei Bundesländer. Lange hatte die rheinhessische Hügellandschaft auf der Südseite gegenüber den idyllischen Taunushängen des Rheingaus auf der Nordseite kulinaristisch und touristisch das Nachsehen; inzwischen hat aber mit den Gastronomen und Winzern auch das Image Rheinhessens aufgeholt.

Ingelheim selbst war um 800 herum Sitz einer bedeutenden Pfalz Karls der Großen. Um deren Wiederentdeckung haben sich die Archäologen in den letzten Jahrzehnten redlich verdient gemacht. 

Dann allerdings – ich zitiere die Werbebroschüre des kING –  : „Der Ruhm des Machtzentrums verblasste – bis 1885 Albert Boehringer den Grundstein für das Ingelheim der Neuzeit legte.“ Tatsächlich hat das weltbekannte Pharmazieunternehmen Böhringer Ingelheim prägende Wirkung für die Stadt. Im Gegensatz zu anderen Firmen, die sich vor dem Fiskus geschickt arm rechnen, zahlt das Familienunternehmen auch reichlich Gewerbesteuer. Ingelheim ist schuldenfrei, die reichste Stadt in Rheinland-Pfalz und investiert kräftig in städtische Lebensqualität und  Stadtbild. 2011 errichtete man am Bahnhof zwischen den verstreuten Ortsteilen Nieder-Ingelheim, Ober-Ingelheim und Ingelheim-West die Neue Mitte. Das entstandene Geschäftszentrum bietet indessen nur eine unbedeutende Variante der immer gleichförmiger werdenden Ladenzentren in den deutschen Städten. Dagegen ist der 2017 fertiggestellte Platz um die neue Kultur- und Kongresshalle eine Überraschung.

Plötzlich hat die Ingelheimer Mitte am Neuen Markt urbane Qualität gewonnen. Ein neues Verwaltungs- und Geschäuftsgebäude, der Neubau des Weiterbildungszentrums (mitsamt Musikschule) und die neue Kongress- und Konzerthalle bilden mit dem bestehenden, aber erweiterten Rathaus ein ansehnliches Quartett von Gebäuden rund um einen angenehm gegliederten großen Platz. (Dessen sommerliche Belebung kann man sich selbst an einem frostigen Märzabend bei eisigem Ostwind gut vorstellen.) In einer Zeit, in der Innenstädte zunehmend dem Kommerz geopfert werden, und in einem Ort, den ein großer Arbeitgeber dominiert, ist es ein mutiges Zeichen, öffentliche Aufgaben wie Verwaltung, Bildung und Kultur als neues Herzstück einer Stadt in Szene zu setzen. Die neue Halle selbst macht schon seit einer Weile durch ihre Vielseitigkeit und ihre besondere Akustik von sich reden.

Der Große Saal bietet bis zu 1000 Plätzen; er lässt sich sich nicht nur durch Trennwände untergliedern, sondern auch in der hinteren Hälfte tribünenartig anheben, so dass gestufte Sitzreihen mit ausgezeichneter Sicht entstehen – so auch an diesem Abend. Rund um den Saal sind Tagungsräume angeordnet;  ein unterirdischer Gang führt ins benachbarte Bildungszentrum. Das Foyer im Rang ist großzügig bemessen. Zum Stau kommt es dagegen im Erdgeschoss, wo die Wartenden an der Garderobe den Ausgang für das nachrückende Publikum blockieren. Hier böte sich aber dessen Umleitung über eine der anderen Saaltüren an. – Die Akustik wird elektronisch nach dem hochmodernen „Constellation Acoustic System“ der kalifornischen Firma Meyer Sound gesteuert und den Bedürfnissen des Tages angepasst – sei es eine Tagung, ein Schauspiel, ein Sinfoniekonzert oder Rockkonzert. Beim Spiel des Armida-Quartett fühlt man sich akustisch wie in einem angenehm dimensionierten Kammermusiksaal. Alle Streichquartettstimmen sind gut durchhörbar, und Sky du Mont liest mit Mikrofon, aber ohne Spur von Verzerrung oder Übersteuerung. Manch einem mag das natürliche Raumgefühl fehlen, doch wir fanden atmosphärisch nichts auszusetzen. Um den technischen Standard auch in Zukunft zuverlässig halten zu können, sollten die Gewerbesteuern der Fa. Boehringer wohl nicht zu sehr einbrechen. Im angrenzenden hochverschuldeten Mainz dürfte man aber bald neidisch sein auf Dimension, Akustik und Ausstrahlung des kING.

Programmatisch fährt das kING in seiner ersten Saison die vorsichtige die Strategie des „Von-jedem-Etwas“. Dass ein wirkliches Konzertpublikum erst noch heranwachsen muss, merkt man an diesem Abend durchaus. Geschickt kombiniert das Rheingau Musik Festival die inzwischen eher esoterische Streichquartett-Besetzung mit vier zugkräftigen Namen: Die klassischen Komponisten Haydn und Mozart  schrecken nicht ab. Sky du Mont, 1947 in Argentinien als Sohn eines deutschen Vaters und einer britischen Mutter geboren, ist ein durch Film und Fernsehen populärer deutscher Schauspieler, und der Name des legendären Abenteurers und Schrifstellers Giacomo Casanova weckt allemal Neugier. Und wenn im Ablauf des Programm immer wieder ein einzelner Streichquartettsatz die Lesung aus Casanovas „Geschichte meines Lebens“  unterbricht, fördert die systematische Abwechslung die Konzentration beim Hören.

Die meisten Hörer dürften wegen du Mont gekommen sein; trotz ihres ausgezeichneten Spiels bekommen  Martin Funda (1. Violine), Johanna Staemmler (2. Violine), Teresa Schwamm (Viola) und Peter-Philipp Staemmler (Violoncello) am Ende relativ kurzen Applaus; und bei du Mont wird in der Pause moniert, dass er sich zu  stark ins Buch vertieft und nicht ans Publikum wendet. Dass der 70-jährige lieber auf die Qualität des Textes setzt statt auf seine persönliche Ausstrahlung, scheint mir eine bewusste und zudem sympathische Entscheidung: Nicht er ist der Held des Abends, sondern Casanova mit den Irrungen und Wirrungen seines Lebens –  und auch die vier Musiker, deren Spiel sich du Mont in den Pausen aufmerksam zuwendet. Vielleicht hätte er aber zu Beginn ein paar persönliche Worte ans Publikum richten sollen. Ansonsten geht dieser Abend nicht nur in seiner geschickten programmtischen Strategie auf; er schafft darüber hinaus auch eine geglückte Durchdringung von Text und Musik.

Wenn Casanova seine Memoiren mit philosophischen Überlegungen zu seinem Lebenslauf und der Situation im Alter beginnt, so sorgen Mozarts Adagio und Fuge c-moll KV 546 – Ergebnisse der  Bach-Studien des Komponisten – für eine ernsthafte und leicht archaisierende Stimmung. Das erste schmerzliche Liebesabenteuer des 13-jährigen spiegelt sich in den kühn konzipierten Reibungen der Einleitung zu Mozarts „Dissonanzenquartett“ C-Dur KV 465. Casanovas Selbstporträt als erfolgreicher Schürzenjäger wird vom Eingangssatz aus Mozarts „Jagdquartett“ B-Dur KV 458 begleitet; das Menuett illustriert dann die galante Welt der höfischen Feste. Ähnlich passend werden die vier Sätze aus Haydns Quartett D-Dur op. 33 Nr. 6 über den Abend verteilt. Wir hören Episoden aus Paris, Dresden, Wien und Madrid. Das letzte Wort hat nicht der Titelheld, sondern sein Freund Lorenzo da Ponte, der in seinen Memoiren ein tragikomische Wiener Episode berichtet. Das Finale des Jagdquartetts bietet hier den passenden Ausklang. Doch so feinsinnig und differenziert, wie sie das Armida -Quintett präsentiert, steckt noch mehr in der Musik, vor allem in den Ecksätzen der Quartett: Ihre innere Dramaturgie, die gegenseitige Ablösung der führenden Stimmen, das Wechselspiel von Spannung und Entspannung, der Weg vom unbefangenen Aussingen der Gefühle hinein in harmonische und thematischen Krisen und durch diese hindurch in eine Art Lösung, all dies erscheint bestens geeignet, innere und äußere Abenteuer eines bewegten Lebens zu spiegeln.

Fortgesetzt wird der Ingelheimer Konzertfrühling in diesem Jahr noch mit einem Familienkonzert „Karneval der Tiere“. 2019 soll dann eine ganze Konzertreihe folgen. Bis dahin gelingt dem Rheingau Musikfestival vielleicht auch eine Lösung für die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Zwar bietet der Fahrschein freie An- und Rückfahrt mit dem Rhein-Main-Verkehrsverbund auf der gegenüberliegenden Rheinseite. Aber das setzt nicht nur einen längeren Fußmarsch vom und zum Hafen voraus, sondern auch ein Privatboot, denn die letzte Fähre nach Oestrich-Winkel legt um 21.00 Uhr ab..

Andreas Hauff

 

 

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