Im Gespräch – mit Tristan und Loge
MARCO JENTZSCH – 24.2. in Bern
Oder: Wer interviewt wen?
Marco Jentzsch nach dem Rheingold. „Zu neuen Taten“. Foto. Sieglinde Pfabigan
Von Neugierde getrieben nach Lektüre diverser Tristan-Premierenberichte aus Wiesbaden, habe ich den deutschen Tenor bewusst erstmals im Jänner 2022 gehört. (Bei einem seiner Volksopernauftritte als Zigeunerbaron hatte mir sein Name noch nichts gesagt.) Meine Neugierde auf weitere Rollen von ihm war geweckt. Im Internet fand ich seine Mailadresse und Informationen über seine weiteren Rollen. Er ließ mich wissen, dass die Eingabe des Namens und einer Rolle genüge, um sich einzelne Aufnahmen mit diversen Opernausschnitten von ihm anhören oder anschauen zu können. Als ich das bei mehreren Rollen getan hatte, war ich nicht nur von der Stimme einmal mehr begeistert, sondern hatte ebenso viele Gesichter gesehen – ob Stolzing, Florestan, Sou Chong, Bacchus, Peter Grimes oder gar den Tannhäuser aus Klagenfurt, mit so vielen Ausdrucksvarianten, dass ich nur noch verblüfft oder auch amüsiert über eine solche Wandlungsfähigkeit sein konnte, die auch stimmlich zum Ausdruck kam. Aus allen, oft nur vom Klavier begleiteten Opernausschnitten hörte ich den großartigen Rollengestalter Marco Jentzsch heraus. Was mich besonders verblüffte: die prägnante Wort-Ton-Gestaltung und die bis zum hohen C topsichere Höhe, die im Zusammenhang mit der gesungenen Szene oder Arie immer Sinn machte – in meiner versuchten Deutung: Wie hoch kann ein Mensch sich mit Hilfe der Musik erheben?
Hier in Kürze seine Rollenübersicht:
Marco Jentzsch studierte Gesang bei Irmgard Hartmann-Dressler in Berlin. Als Ensemblemitglied in Erfurt und Hannover war er u. a. als Tamino, Belmonte, Steuermann, Edgardo und Rosillon zu erleben. 2009 debütierte er in Köln als Stolzing (Regie: Uwe Eric Laufenberg), den er in der Folge auch an der Komischen Oper Berlin (Regie: Andreas Homoki) sowie beim Glyndebourne Festival 2011 (Regie: David McVicar) sang. 2010 debütierte er an der Nederlandse Opera Amsterdam als Erik, kurz darauf an der Mailänder Scala als Froh unter Daniel Barenboim. Partien wie Erik, Parsifal, Lohengrin, Max, Peter Grimes, Tambourmajor, Alviano (»Die Gezeichneten«) und Bacchus führten Marco Jentzsch an die Hamburgische Staatsoper, die Oper Köln, nach Tel Aviv (unter Zubin Mehta), nach Zürich (Erik) und Basel (Apollo in »Daphne«), Wiesbaden und an die Dresdner Semperoper. In den vergangenen Jahren debütierte er u.a. an der Volksoper Wien in der Titelrolle von »Hoffmanns Erzählungen« und als Zigeunerbaron, In Linz als Florestan und am Theater Klagenfurt als Tannhäuser. Weitere Engagements führten ihn u. a. nach Leipzig (Max im »Freischütz«) und nach Schwerin/Schlossfestpiele (Florestan). In Wiesbaden sang er in der Spielzeit 2018/2019 den Stolzing in der Neuproduktion der » Meistersinger «, in der folgenden Spielzeit Graf Tassilo in »Gräfin Mariza« und in der Saison 2021/2022 den Tristan. Nächste fixe Termine: Ein konzertanter Tristan am 9.7.2022 beim Cesis Art Festival (Lettland), in Wiesbaden Meistersinger (17.9.22; 3.10.22; 9.10.22; 17.6.23; 8.7.23), Tristan (29.1.; 12.3.; 2.7.2023) und „Fidelio“ (15.10.22; 20./22./27./30.10.22; 4./11./13.11.22; 8.1.23), in Bern „Walküre“ 2022/23 (15.1.23; 21./25./27.1.23; 4./19./26.2.23; 11./16./19.3.23) und in Hannover Parsifal (23.9.; 3.10.; 8.10.; 15.10.; 22.10.2023).
Marco Jentzsch als Tannhäuser (Romerzählung) in Klagenfurt (c: Kh Fessl)
Eine Mail-Anfrage an den Sänger, ob er in Bern an einem Interview interessiert wäre, wurde positiv beantwortet. Wir kamen – er aus Hannover, ich aus Wien – am Vorabend der “Rheingold“-Vorstellung in Bern an und unterhielten uns im gemütlichen Speiseraum des Hotels Kreuz an die drei Stunden angeregt über unsere diversen Opernerfahrungen und seine Zukunftspläne. Nachdem ich meinen lebenslänglichen Opernwahn kurz umrissen und den Sänger über die Prinzipien des alten und neuen Merkers informiert hatte, war seine Neugierde erweckt an allem, was der gebürtige Potsdamer in der DDR nicht „live“ mitbekommen hatte.
So etwa kannte er Karajan nur aus CD-Aufnahmen und fragte mich mit einem heraushörbaren leichten Fragezeichen, wie ich ihn beurteile, und ich durfte ihm über die Wiener Live-„Ringe“ berichten, die meinen Wagner-Wahn ausgelöst hatten – mit Hotter, Nilsson, Windgassen, Rysanek, Frick…, die sich von der konservierten Version doch um einiges an Lebendigkeit unterschieden. Dazu bedurfte es keiner weiteren Diskussionen.
Es fielen vonseiten des Sängers ein paar weitere Namen von prominenten Dirigenten, über die er mein Urteil hören wollte, aber…es gäbe ja auch viele gute, die nicht zu den „Stars“ gezählt werden, trotzdem aber für die Sänger ideal seien… Und als meinerseits u.a. der Name Peter Schneider fiel – „Ach ja!“ und es erhellte sich das Gesicht meines Gesprächspartners: „Unter ihm durfte ich in Berlin einmal den Stolzing singen! Er sprang für einen absagenden Kollegen ein, ich musste ihn vorwarnen, dass ich mich stimmlich nicht in bester Verfassung fühlte … Aber er beruhigte mich, das würde niemand merken…Und tatsächlich, er begleitete mich so, dass jegliches Bedenken schwand und ich mich optimal fühlte!“ – Ein verständnisvolles Kopfnicken des Sängers war sein Kommentar zu meinem Geständnis, dass ich nahezu alle Staatsopernvorstellungen mit diesem wunderbaren Opern-Dirigenten besucht habe.
Auch zu den Rückblicken auf meine Bayreuth-Besuche seit 1961 kamen viele Rückfragen und Kommentare. Wir waren uns jedoch immer einig, wessen Regie-, Dirigenten- und Sängerauftritte Wagner am gerechtesten wurden.
Der langen Rede kurzer Sinn: Jentzsch möchte aber immer, gesanglich wie darstellerisch, seinen eigenen Weg zur Rollengestaltung finden. Wolfgang Windgassen sei der einzige, der ihn bei der Tristan-Gestaltung beeinflussen konnte.
Und was Regisseure betrifft, so ist er besonders dem Wiesbadener und vormaligen Kölner Intendanten Uwe Eric Laufenberg zu Dank verpflichtet, der nicht nur zusammen mit seinen Sängern die Rollen und das Zusammenspiel erarbeitet, sondern auch deren eigene Intentionen wahrnimmt und mögliche künftige Rollenvorschläge macht. Unter seiner Obhut habe er in Köln seinen ersten Stolzing gesungen, und er sei überrascht gewesen, dass Laufenberg ihm jetzt den Tristan angeboten habe. Jentzsch war sich nicht sicher, ob er dem stimmlich schon gewachsen sei, aber Laufenberg wusste: Wenn man ihn richtig singt, ohne Forcieren, dann gibt es keine Probleme. Um ganz sicher zu gehen, sang Marco Jentzsch vor Beginn der Proben dreimal die Partie in der angegebenen Zeit mit voller Stimme ganz durch, um zu testen, ob er das schaffe, und es klappte. In den nächsten Jahren macht er sich nun über den Siegmund und in die Siegfriede. Und – er möchte seine Stimme weiterhin so lyrisch wie möglich erhalten, wozu Zwischenfachpartien und Operettenrollen beitragen sollen. Auch Mozarts Titus oder Idomeneo könne er sich vorstellen. Und Lortzing liebt er besonders, dessen Opern er in jungen Jahren noch an großen deutschen Bühnen erlebt hat. (Hören Sie sich online, liebe Leser, die Arie des Grafen Hugo aus Lortzings „Undine“ mit dem finalen hohen C an!) Weil er trotz seiner Liebe für Verdi, Donizetti, Bellini, Puccini… deren Tenorpartien er als für seine typisch deutsche Stimme ungeeignet findet, verzichtet er auf diese Rollen. Liederabende würde er gerne singen, vor allem mit Schubert und Richard Strauss, aber da kommen keine Angebote; das verkaufe sich schlecht, sei die Auskunft.
Und slawische Rollen?
„Ich würde auch slawische Rollen singen. Russisch habe ich mal gelernt. Für eine Opernrolle würde es wohl noch reichen. Tschechisches Repertoire würde ich nicht im Original singen. Laca habe ich in Darmstadt auf Deutsch gesungen. Ihn würde ich immer wieder singen wollen – aber auf Deutsch. “Jenufa“ gehört zu meinen Lieblingsopern! Wenn ich eine Sprache nicht spreche und genau kenne, ist es für mich sehr schwierig, die entsprechende Rolle glaubhaft zu gestalten. Den Text phonetisch zu lernen und dann sozusagen „aufzusagen“ ist nicht meine Vorstellung von Musiktheater. Auch wenn ich jedes Wort genau übersetzt habe, werde ich meinem Anspruch da nicht gerecht. Ich bin mit Harry Kupfer groß geworden, der, wie Felsenstein und Herz, an der Komischen Oper Berlin alles in Deutsch aufführte, mit wunderbaren Bühnenkünstlern, die man verstand. Da brauchte man keine Übertitel! Was waren das für aufregende Musiktheaterabende! Ich bin da wohl altmodisch, aber das ist meine Einstellung…! Musik und Text stehen für mich gleichbedeutend nebeneinander, denn sie bedingen ja einander. (Auch in Übersetzung) Eine schöne Stimme ohne Textverständnis und Ausdruck gibt mir nichts. Aber eine schöne Stimme, bei der man jedes Wort, jede Stimmung versteht – gibt es etwas Schöneres? Wie wichtig ist das auch beim Lied! Natürlich ist mir klar, dass es heute im internationalen Opernbetrieb schwierig wäre, alle Opern in der jeweiligen Landessprache aufzuführen. Da fände man wohl kaum oder nur schwer Einspringer. Somit bleibe ich in meinem deutschen Repertoire!“
Als Walther von Stolzing (Glyndebourne 2011) Foto: Internet
Wer Marco Jentzsch generell als Vorbild zum richtigen Singen in tenoralen Höhen angeregt hatte, war Nicolai Gedda mit seinen zahlreichen Plattenaufnahmen. Diese reine, klare Tongebung bei höchster Wortdeutlichkeit in allen Sprachen, ein Gesang, der nie angestrengt klingt, schien ihm erstrebenswert. Dass ihm der im Jahre 2017 mit 92 Jahren verstorbene schwedische Tenor sogar einen Brief ganz lieb beantwortet hat, verzeichnet Jentzsch heute noch mit Freude und Stolz!
In der Tat ist es auch bei ihm dieses bewusste Auskosten der Höhenlage, die einen freut – umso mehr, wenn auch die Übergänge zur Mittellage, bei Wagner manchmal fast bis an die Bassgrenze, organisch und problemlos funktionieren, wie ich bei seinem Tristan und in diversen Aufnahmen bewundernd feststellen konnte.
Dass ich dem Sänger nach Bern meinen Merker-Artikel (Heft 4/2020) über die Rolle, die Tenöre in meinem Leben gespielt haben, mitbrachte, und ihm vermelden konnte, dass ich dafür von der Leserschaft die meisten positiven Dankeszuschriften in 54 Jahren Merker-Tätigkeit erhielt, möge seine Vorfreude auf weitere bedeutende Tenorrollen stärken!
Erfreulich zu erfahren, dass auch ein familärer Rückhalt da ist. Befragt, von wem er seine Musikalität geerbt habe, kann Marco Jentzsch nur sagen, dass er schon als Kind immer gern und viel gesungen und sein Vater ihn öfters in Opernvorstellungen mitgenommen habe. Die Berufswahl fiel aber zunächst auf Heimerzieher für behinderte Kinder und Jugendliche. Als Berufskollegin lernte er dort seine Frau kennen. Der nun 17-jährige Sohn ist dann im langjährigen Wohnort der Familie (mit Pferden und zwei Hunden) auf einem kleinen Bauernhof in der Nähe von Hannover aufgewachsen und möchte Forstwirtschaft studieren. Vaters Kommentar: „Man muss das machen, was man wirklich gerne machen möchte!“ – Dass Natur und Kultur das Schönste ist, was uns Menschen gegeben wurde, darin sind wir uns wohl alle einig.
Sieglinde Pfabigan