Kurz nach der umjubelten Flensburger Schwanensee-Premiere und kurz vor ihrem eigenen Debüt als Odette/Odile traf ich die aus Rio de Janeiro stammende Balletttänzerin Iaçanã Castro zum Interview.
Ihre erste Begegnung mit dem Ballett lief nicht ganz so wie geplant, denn bei den ersten Ballettstunden war Iaçanã im Alter von vier Jahren von den anderen Mädchen, die lieber spielen als tanzen wollten, genervt und brach das Experiment daher sehr schnell wieder ab. Erst mit 13 Jahren gab es eine erneute Begegnung mit dem heute geliebten Beruf:
Ich begann meine Ausbildung 2010 an der staatlichen Maria Olenewa Ballettschule in Rio. Im selben Jahr nahm ich an einer Audition der Ballettschule des Bolschoi-Theaters in Santa Catarina im Süden Brasiliens teil. Dies ist die einzige Schule des Bolschoi Theaters außerhalb Moskaus. Im Alter von 14 Jahren bin ich mit meiner Großmutter dorthin umgezogen. Es gibt in der Bolschoi-Schule natürlich auch Wohnmöglichkeiten für die Studenten, aber meiner Mutter gefiel der Gedanke nicht, dass ich alleine dort wohnen sollte. So war ich sehr glücklich, dass meine Oma sich zur Erfüllung meines Wunsches zur Verfügung gestellt hat. Ich stieg also in der vierten Klasse dort in die Ausbildung ein und blieb bis zum Abschluss vier Jahre später.
Ende 2013 kam Peter Breuer, der Ballettdirektor des Salzburger Landestheaters, in unsere Schule, um 15 Studenten für seine Schwanensee-Produktion nach Österreich einzuladen. Auf diesem Wege kam ich im Alter von 17 Jahren nach Salzburg, wo ich vier Monate blieb. Dies war mein allererster Besuch in Europa und ich war mir sofort sicher, dass ich wiederkommen wollte. Damals war mein Studium noch nicht abgeschlossen, deshalb ging ich zunächst nach Brasilien zurück. Mein Ziel war es jedoch seitdem, nach Europa auszuwandern.
Gegen Ende der Ausbildung erhielten einige der Studenten das Angebot, als Nachwuchstänzer für die Ballettschule zu arbeiten und mit der Company durch Brasilien zu touren, aber Iaçanā war klar, dass das für sie nicht der richtige Weg war.
In Brasilia gibt es jedes Jahr einen Tanzworkshop, den ich ebenfalls besucht habe. Dort habe ich den deutschen Professor Hans Tappendorf kennengelernt, der mich dem Ballett St. Pölten empfohlen hat. Im Dezember 2015 habe ich meinen Abschluss gemacht und im Januar 2016 war ich wieder in Österreich. Dort haben wir in Bahnhöfen, teilweise an sehr kleinen Bühnen, manchmal aber auch an sehr großen Bühnen getanzt. Viele der Orte, an denen wir aufgetreten sind, waren äußerst ungewöhnlich. Ich habe in dieser Zeit eine ganze Fülle an Bühnenerfahrungen machen dürfen. Ich war auch an einer Opernproduktion der Salzburger Festspiele beteiligt. Einiges an dieser Zeit war schön, andere Dinge waren weniger schön. Wir haben mit 13 Personen in einem Haus gewohnt und das Zusammenleben war nicht immer ganz einfach.
Wie kamen Sie dann schließlich von Österreich in Deutschlands äußersten Norden?
Als ich das erste Mal von Flensburg hörte, war ich mir nicht mal sicher, ob die Stadt noch zu Deutschland gehört. Beim ersten Besuch habe ich mich sofort in die Stadt verliebt. Die Förde und die direkte Anbindung ans Meer haben mich an zu Hause erinnert und ich habe mich von Anfang an wohl gefühlt. Während meiner ersten Audition bei Ballettdirektorin Katharina Torwesten konnte sie mir noch keinen Vertrag anbieten, weil keine Stelle frei war. Sie bat mich also im folgenden Jahr wieder zu kommen. Im Oktober 2017 besuchte ich Flensburg erneut und zu diesem Zeitpunkt stand bereits fest, dass jemand zum Ende der Spielzeit das Ensemble verlassen würde. In der Zwischenzeit kam ich erneut nach Salzburg, denn Peter Breuer lieh sich für seine Cinderella Produktion am Landestheater fünf Paare aus St. Pölten aus. Ich war die einzige Tänzerin, die in Schwanensee dabei war und auch in Cinderella erneut bei ihm gastierte.
War es für Sie schwer, sich von der südamerikanischen Lebensart auf Ihr neues Leben in Europa umzustellen?
Zwischen Brasilien und dem deutschsprachigen Raum gibt es große Unterschiede. Aus meiner Sicht ist hier alles viel besser. Schon in Salzburg habe ich die Erfahrung gemacht, dass alles gut organisiert war, es viel zu lernen gab und ich mich auf Abmachungen verlassen konnte. Als ich noch mal die eineinhalb Jahre nach Brasilien zurückkehrte empfand ich dort alles als weniger schön, als langweiliger und auch als relativ chaotisch. Kulturell sind mir gar nicht so viele Unterschiede aufgefallen. Ich selbst bin für brasilianische Verhältnisse ein eher kühler Typ und kann nicht behaupten, dass die Leute hier in Norddeutschland weniger warmherzig als die in Brasilien sind. Für mich gab es kaum einen Kulturschock, sondern ich habe mich sowohl in Österreich als auch in Deutschland sofort wohlgefühlt.
Können Sie mir noch etwas mehr über den Bolschoi-Ableger in Brasilien erzählen?
Die erste Generation Lehrer an der Bolschoi-Schule waren alle Russen und es galten und gelten immer noch strenge Regeln. Es gab kein „vielleicht“, sondern klare Anweisungen, die wir Schüler einzuhalten hatten. Vielleicht hatte ich da schon eine eher deutsche Ausrichtung mit auf den Weg bekommen, denn andernorts gibt es in Brasilien immer einen Weg, etwas zu mauscheln oder zu improvisieren. Durch die strenge Schule tickte ich von Anfang an schon sehr europäisch. Inzwischen ist die Bolschoi-Schule schon mehr als 20 Jahre alt und es unterrichten auch ehemalige Schüler, also Brasilianer. Diese sind aber durch die russische Schule gegangen und haben alle ein Praktikum in Moskau absolviert.
In St. Pölten habe ich nach der sehr klassischen Ausbildung am Bolschoi auch zeitgenössischen Tanz gelernt und bin dadurch deutlich vielseitiger geworden, so dass ich ganz gut ins Flensburger Ensemble passe. Direkt nach meinem Abschluss hätte ich vermutlich nicht die Dinge am Schleswig-Holsteinischen Landestheater tanzen können, die ich momentan hier mache.
In Flensburg tanze ich jetzt wahrhaftig Odette / Odile obwohl ich bei meiner Größe von nur 1,60 Metern und meinem etwas dunkleren Teint von Anbeginn meiner Karriere davon überzeugt war, niemals diese Rolle verkörpern zu können. Ich war sehr überrascht als Katharina mich fragte, ob ich es machen möchte. Ich dachte mir, wenn sie mir dieses Vertrauen schenkt, gibt es auch eine reelle Chance, dass ich diesen Charakter gut auf der Bühne umsetzen kann. Es geht ja nicht nur um die körperliche Konstitution, sondern auch um meine Seele, um das was ich bereits erlebt habe und um das, was ich Dank dieser Komponenten zum Ausdruck bringen kann.
Ich liebe an der Arbeit mit Katharina, dass sie uns Tänzern immer eine Erklärung dafür gibt, warum was wie zu erfolgen hat. Odette ist nicht einfach Odette, weil sie Odette ist. Sie ist Odette, weil in ihrer Vergangenheit etwas passiert ist, das sie zu der Persönlichkeit gemacht hat, die sie ist. Auch Rotbart hat in seiner Kindheit eine Art Trauma erlebt, das ihn zum bösen Gegenpol hat werden lassen. In der Schule haben wir Unterrichtseinheiten in Ballettliteratur gehabt und natürlich gelernt, dass Rotbart ein böser Magier ist, aber wir haben dort nie thematisiert, warum dies so ist.
Ich werde mein Bestes geben, dass ich dem Publikum die Geschichte gut vermitteln kann und dass ich diese Emotionen mit ihnen teilen kann (lacht).
Dass dies gelungen ist, bewiesen die Standing Ovations nach Iaçanā Castros Debüt.
Marc Rohde 10/2019