Hybrid-SACD-Box „OTTO KLEMPERER conducts the WIENER SYMPHONIKER“ – Vox Studioaufnahmen und Live-Mitschnitte 1951-1963; archiphon
In Granit gemeißelt – Otto Klemperers Vision für Beethoven, Bruckner und Mahler
„Klemperer interessierte sich nicht sonderlich für die Art von Sentimentalität in der Musik wie Walter, er interessierte sich auch nicht sonderlich für Rhetorik und Pathos wie Furtwängler. Im Gegenteil, er interessierte sich viel mehr für die Bedeutung der Form der Musik.“ Pierre Boulez
Otto Klemperer war zu Beginn des Jahres 1951 in Amsterdam und dirigierte als Einspringer für Rafael Kubelik eine Reihe von Konzerten mit dem Concertgebouw Orchester, als George de Mendelssohn-Bartholdy ihn fragte, ob er nicht Interesse an Schallplattenaufnahmen mit den Wiener Symphonikern für das Label Vox Records hätte. Diese wären – was für ein Unterschied zu heute – auch „finanziell lohnender als Konzerte“. Da das Angebot nur Spitzenwerke der Konzertliteratur wie Beethovens „Missa solemnis“ oder Mahlers „Zweiter“, also die Auferstehungs-Symphonie, dessen „Lied von der Erde“ oder Bruckners „Vierter“ umschloss, sagte der Dirigent zu. Die ersten Aufnahmen entstanden vom 8. bis zum 15. März 1951, die zweiten im Mai 1951 und die dritte Sitzung war für den 9.-11. Juni 1951 anberaumt.
Der Übergang vom schweren Schellack zur 30 cm Vinyl Langspielplatte war erst seit drei Jahren vollzogen, was erlaubte, dass man jetzt einen ganzen Satz einer großen Symphonie hören konnte, ohne die Seiten zu wechseln. George Mendelssohn, ungarischer Herkunft, hatte Vox 1945 in Manhattan gegründet. Sein damals wohl revolutionäres Budget-Label-Konzept (später erfolgreich von Naxos u.a. kopiert) erlaubte es von Anfang an, Boxen zu günstigen Preisen am Markt zu platzieren, so etwa die erste Gesamtaufnahme aller Beethoven Klaviersonaten mit Alfred Brendel.
Dass Vox die Produktionskosten (und womöglich die Gagen) niedrig hielt, wirkte sich bisweilen unvorteilhaft auf die technische Qualität der Platten aus, aber dafür wurde nicht gemixt und gekünstelt, was der Authentizität und spontanen Kraft des künstlerischen Moments der Aufnahmen zugutekommt. Dank der liebevollen Restaurierung der Tondokumente durch Boris-Alexander Bolles, der darauf achtete, einen natürlichen Raumklang und eine richtige Wiedergabegeschwindigkeit zu erzielen, alle störenden Geräusche zu beseitigen und dennoch die musikalische Information so unversehrt wie möglich zu erhalten, ist die Vox Legacy aus dem Jahr 1951 heute klanglich der Zeit entsprechend eine sehr gute. Wir finden künstlerisch absolut unverzichtbare Zeugnisse der dirigistisch strengen Hand und des beherzten Zugriffs des Otto Klemperer auf die Musik.
1951 war Klemperer bei aller Wucht der orchestralen Wirkung – nach der heute so gefeierten größtmöglichen Transparenz des Klangs suchte er in diesen Jahren sicher nicht – und lange bevor sich der Ruf eines in aller Ruhe zelebrierenden Großmeisters der großen Form erhärtete, ein leidenschaftlicher Dirigent mit ehernen Ansprüchen, einem Toscanini oder Victor de Sabata nicht unähnlich. Dieser Hitzkopf neigte damals bei „schnellen Tempi zu getriebenen, wenn nicht sogar harsch klingenden Wiedergaben“ (Dick Bruggeman). Ich sehe das anders: Genau dieses dämonisch los peitschende, vollkommen taktgenaue Durchziehen etwa der Fuge ‚In gloria Dei patris Amen‘ oder der Schlussfuge im Credo ‚Et vitam venturi saeculi‘ in der „Missa solemnis“ zählen zu den faszinierendsten musikalischen Erfahrungen, die auf Tonträgern möglich sind. Wenn Hans-Heinz Stuckenschmidt schreibt, „Klemperer gab eigentlich mit seinem Minimum an Bewegung das Bild eines fast anti-emotionellen Musikers, aber was herauskam, war das genaue Gegenteil“, und Pierre Boulez von der „hypnotisierende Kraft, die von dieser mächtigen Starre ausging“ fasziniert war, so ist viel Zutreffendes gesagt. Aus den unerbittlich durchgezogenen Tempi (Stichwort: Rubati unerwünscht) erwächst so etwas wie eine dionysische Verwegenheit, bisweilen ein rauschhafter Taumel, eine wüste Orgie der Instrumente. Das ist es, was in erster Linie im Gedächtnis haften bleibt, nicht zuletzt, weil es so rar. Aber natürlich hatte Klemperer eine apollinische Seite, eine licht- und klarheitssehnsuchtsvolle Sonnigkeit, wie es die Einspielung der „Vierten Symphonie“ von Mendelssohn-Bartholdy, der sog. „Italienischen“, oder der „Vierten“ Mahler bezeugt. Außerdem ist Klemperer ein Meister der artikulatorisch dichten Klangrede und darin wiederum sehr sehr modern.
Den Charismatiker mit dem Berufsbubenwunsch, Schauspieler zu werden, führte der künstlerische Werdegang nach dem Berliner Studium bei Hans Pfitzner, der brennenden Unterstützung durch Gustav Mahler und den erfolgreichen Aufbruchsjahren an der 1927 gegründeten Kroll Oper nach Los Angeles, Budapest, sodann privat nach Zürich und beruflich nach London, wo er mit dem neu gegründeten Philharmonia Orchester Maßstäbe setzte. Der legendäre EMI-Produzent Walter Legge nahm ihn ab Oktober 1954 unter seine Fittiche. Als Komponist reüssierte Klemperer weniger, seine sechs Sinfonien, neun Streichquartette, seine Lieder und die Oper „Das Ziel“ harren noch der Auferstehung.
Die jetzt neu editierten Aufnahmen mit den durchwegs irrsinnig gut disponierten Wiener Symphonikern (Streicher, Holz!), die ihm willig und trotz rasanter Tempi in Todesverachtung alle Wünsche erfüllen, sind nicht nur deshalb so einzigartig, weil sie in eine äußerst euphorische und von Problemen aller Art relativ freie Schaffensphase des Künstlers fallen, sondern weil Klemperer die ungestüme Intensität und zwingend abstrakte, in Wahrheit jeder verbal gleichnishaften Annäherung entzogene Ausleuchtung der Partituren später nicht mehr erreicht hat, und mit seinem Spätstil auch bewusst nicht mehr haben wollte.
Die Solistinnen und Solisten, die Klemperer zur Verfügung standen, waren vorzüglich: Ilona Steingruber, Else Schürhoff, Erich Majkut, Otto Wiener ergeben ein homogenes und zu jedem Jubel fähiges Solistenquartett in der „Missa solemnis“ (dazu der tapfere Akademiechor). In der Auferstehungssymphonie begegnen wir zweifach (Studio 14.16.5.1951 – 78 Minuten, live 18.5.1951 75 Minuten) noch einmal dem klaren und leuchtenden Sopran der Ilona Steingruber und der elegant timbrierten, pastosen Hilde Rössel-Majdan. Der Akademie Kammerchor und der Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde geben ihr Bestes, was bei den tremolierenden Sopranen nach heutigen Maßstäben kaum ausreichend wäre. Größte Freude bereiten der im Lyrischen wie in der heldischen Attacke überzeugende Anton Dermota und die waldhonigdunkel orgelnde Elsa Cavelti (zum Zeitpunkt der Aufnahme war sie erste dramatische Altistin am Opernhaus Zürich) in Mahlers „Lied von der Erde“. In der Live-Aufnahme von Mahlers Symphonie Nr. 4 in G-Dur vom 21.6.1955 hören wir Teresa Stich-Randall, als Solistin für die Klavierkonzerte von Frederic Chopin (Nr. 2 in f-Moll, Op. 21), von Robert Schumann in a-Moll, Op. 54 und von Beethoven (Nr. 4 in G-Dur, Op. 58) fungiert die großartige brasilianische Pianistin Guiomar Novaes. Bei Letzteren handelt es sich um Studioproduktionen, entstanden vom 9.-11.6.1951.
Auch von Kuriosem ist zu berichten. Bei der Aufnahme der Dritten Symphonie in a-Moll, Op. 56, der „Schottischen“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy, dirigierte Klemperer nur den ersten Satz, die restlichen Sätze wurden von Prof. Herbert Haefner fertig gestellt. Mit welchem Orchester bzw. welcher „Garnitur“ genau, ist opak, weil Klemperer genau während der Zeit, wo die restlichen Takes aufgenommen wurden, mit den Wiener Symphonikern auf Griechenland-Tour weilte. Das Klemperer not amused war, können wir uns vorstellen. Tatsächlich kam es hierauf schon im November 1951 zum endgültigen Bruch mit dem allzu schlauen Plattenboss.
Die ersten neun CDs der Box sind den Vox-Aufnahmen des Otto Klemperer mit den Wiener Symphonikern aus dem Jahr 1951 für Vox gewidmet. Die CDs 10 bis 16 sind „Lives“ und stammen aus den Archiven des ORF, die Orchestersuite von J. S. Bach in D-Dur BWV 1068 geht auf eine Musikkassette von Lotte Klemperer zurück. Bei fast alle Veröffentlichungen beginnend von Mozarts „Jupiter Symphonie“ und Mahlers „Vierter“ (Musikverein 21.6.1955) über eine „Siebente“ Beethoven vom 8.3.1956 (Wiener Konzerthaus) bis zu den spätestens Aufnahmen der Box (Beethoven: Coriolan Ouvertüre, Symphonien Nr. 2 und 3 vom 16.6.1963; Theater an der Wien) handelt es sich um CD-Premieren. Das Remastering der Rundfunkmitschnitte ist aufsehenerregend gut gelungen.
Alle Aufnahmen im Detail zu bewerten, in das künstlerische Vermächtnis des Dirigenten genau einzuordnen bzw. sie in das genuine historische und biografische Umfeld zu stellen, würde eine Dissertation benötigen. Zum Glück findet der Käufer in der Box aber nicht nur die CDs, sondern auch ein 160 Seiten starkes, reich bebildertes Hardcover-Buch mit einer sehr gut recherchierten und interessanten Darstellung der Geschichte der Aufnahmen und Würdigung ihrer künstlerischen Qualität in englischer (Original von Dick Bruggeman) und in deutscher Sprache (in einer leider grammatikalischen unzureichenden, vielfehlerhaften Übersetzung). Die Notizen über das digitale Re-Mastering und Restaurierung für SACD – Hintergründe und Technologien – sind ebenso von Wert für die Hörerschaft.
Fazit: Für alle, die vom Wunder glühender musikalischer Lesarten und insbesondere der epochalen Kunst des Otto Klemperer so infiziert sind wie ich, absolut unverzichtbar.
Inhalt der Box
- Ludwig van Beethoven: Symphonien Nr. 2, 3, 5-7; Missa solemnis D-Dur op. 123; Klavierkonzert Nr. 4; Coriolan-Ouvertüre op. 62
- Felix Mendelssohn: Symphonien Nr. 3 & 4
- Anton Bruckner: Symphonien Nr. 4 & 7
- Gustav Mahler: Symphonien Nr. 2 & 4 (Nr. 2 in zwei Einspielungen); Das Lied von der Erde
- Franz Schubert: Symphonie Nr. 4
- Frederic Chopin: Klavierkonzert Nr. 2
- Robert Schumann: Klavierkonzert op. 54
- Wolfgang Amadeus Mozart: Symphonie Nr. 41
- Johann Sebastian Bach: Orchestersuite Nr. 3
- Johannes Brahms: Symphonie Nr. 3
Tonformat: mono (Hybrid)
Dr. Ingobert Waltenberger