Bildrechte: Theater für Niedersachsen/ Hildesheim
HILDESHEIM: DIE PANTÖFFELCHEN von PETER I. TSCHAIKOWSKY – Erste Premiere in Deutschland nach 30 Jahren
9.12. 2018 (Werner Häußner)
Es tut sich viel am Theater Hildesheim, seit Florian Ziemen vor einem Jahr das Amt des Generalmusikdirektors übernommen hat. Die Musiktheater-Spielpläne machen ehrgeizig auf vernachlässigte Werke aufmerksam, so in dieser Spielzeit zum Offenbach-Jahr „Die Prinzessin von Trapezunt“ – und soeben mit einer gefeierten Premiere über die Bühne gegangen, Peter Tschaikowskys Märchenoper „Die Pantöffelchen“.
Es ist völlig unverständlich, dass der letzten Inszenierung in Deutschland, 1988 in Augsburg, in dreißig Jahren keine weitere gefolgt ist. Aber damit teilt Tschaikowskys 1887 uraufgeführter, auf Nikolai Gogols „Die Nacht vor Weihnachten“ basierender Vierakter das Schicksal so manchen entzückenden Juwels der russischen Oper, von Modest Mussorgskys „Der Jahrmarkt von Sorotschintzy“ bis hin zu Nikolai Rimski-Korsakows „Schneeflöckchen“. Basierend auf einer gründlichen Umarbeitung seiner frühen Oper „Wakula, der Schmied“ (1876) schuf der überkritische Tschaikowsky seine einzige Oper mit komischen Elementen – eine Mischung aus fantastischem Märchen und heiterem Volksstück, in dem Gogol sehnsuchtsvolle Heimatliebe mit politischer Satire und einem guten Schuss Ironie verbindet.
Schon die Figuren verweisen auf märchenhaft-unheimliche Wurzeln: Der starke, aber auch jungenhaft naive Schmied Wakula ist Sohn einer Hexe, der Teufel selbst tritt als burlesker Spielmeister auf, Oxana ist natürlich das wunderschöne Mädchen des Märchens, aber auch Tochter eines versoffenen Kosaken, der mit seinen Kumpeln ein volkstümlich charakterisiertes Trio bildet. Die Handlung ist schnell erzählt: Wakula möchte Oxana heiraten, die aber ist prätentiös und fordert schöne bunte Schuhe, wie sie die Zarin trägt („Tscherewitschki, newelitschki“). Wakula verzweifelt. Wäre da nicht der Teufel, der sich eigentlich für ein karikierendes Kirchenbild an dem jungen Schmied rächen wollte, er könnte die Aufgabe nicht erfüllen. So aber gelingt es Wakula durch seinen Witz, den Gehörnten in seinen Dienst zu zwingen. Sie fliegen nach Sankt Petersburg, am Hof der Zarin verhexen sie die Gesellschaft. Wakula kann zu einer Durchlaucht vordringen, der ihm goldene Schuhe schenkt. Zurück in seinem ukrainischen Dorf, ist Oxana so von Sehnsucht erfüllt, dass sie ihren Wakula sofort nimmt – die Liebe ist so groß, dass es der Schuhe nicht mehr bedarf.
Um die „Pantöffelchen“ wirkungsvoll auf die Bühne zu bringen, braucht es das Gespür für die bisweilen skurril übersteigerte Komik, den Sinn für die feine Ironie, aber auch die richtige Hand für die Schwermut etwa des Wakula, dessen Niedergeschlagenheit sich angesichts seiner kaum lösbaren Aufgabe zu klagender Verzweiflung steigert. Dazu kommt das episch-episodische Libretto Jakow Polonskis – in Hildesheim in einer holprig-sprachartistischen anonymen Übersetzung von 1898 auf Deutsch gegeben –, das etwa im dritten Akt am Zarenhof mit Tänzen und Einlagen die Handlung still stehen lässt. Die junge Wiener Regisseurin Anna Katharina Bernreitner, dort Gründerin und Leiterin der Oper rund um (www.oper-rund-um.at), entscheidet sich für einen leichtfüßig humorvollen Zugang, der die Satire und die hoffmannesken Elemente des Unheimlichen zurückdrängt und das Skurrile entschärft.
Um das Märchen zu betonen, fehlt der Hildesheimer Inszenierung der Theaterzauber. Hannah Rosa Oellinger und Manfred Rainer schaffen eine Bühne, die sich gut für Gastspielreisen einpacken lässt, aber auf die Maschinerie der Illusion weitgehend verzichten muss. Auch das Licht bleibt bescheiden und reißt keine zusätzlichen Dimensionen auf. Dennoch haben die beiden Bühnenbildner hübsche Einfälle: Der schneeweiß-flinke Teufel mit seinen miniaturisierten Geißbock-Hörnern baut zu Beginn das Dörfchen auf – mit Häuschen, die sich wie eine Matrjoschka ineinander schachteln. Kommt die Kneipe ins Spiel, kurvt ein Mini-Gebäude mit der Leuchtschrift „Open“ ins Bild.
Die fantasievollen Kostüme charakterisieren die Figuren: die ein wenig eitle Oxana mit einer Art wollig-weitem Wickelrock, die Hexe Solocha mit einem gewaltigen, aus einem Zopf geflochtenen Kopfputz und einem Frettchenskelett als Halsschmuck. Wakula trägt einen Pullover mit traditionellem Muster, die Hofgesellschaft ist in unwirkliches Weiß mit ausladenden spanischen Krägen gewandet. Der alte Kosak Tschub steckt mit den Dorf-Autoritäten Lehrer und Schulze in dicken Tierpelzen. Und der Teufel mit seiner wuschigen Haarpracht steckt in niedlichen Pelzstiefeln.
Aber dem Ritt durch die Luft nach Petersburg oder der Szene mit den Wassergeistern fehlt einfach der Zauber der Überwältigung, und für den russischen Zarenhof sind ein paar zu Palmen umgestaltete Heizstrahler aus der Außengastronomie keine Staunen weckende Bildidee. Das magere Märchen wird auch durch die Charakterisierung der Personen nicht bereichert: Zu schwerfällig der Humor des zweiten Aktes, wenn die Besucher Solochas nach und nach in Kohlensäcke wandern. Und Wakula, die farbigste Figur des Stücks, steht allzu oft in der Gegend und weiß mit ihren Emotionen nichts anzufangen.
Auf diese Weise ziehen sich die drei Stunden – und das trotz der vielgestaltigen, farbigen, abwechslungsreichen Musik Tschaikowskys. Florian Ziemen, erst kürzlich bis 2022 als GMD verlängert, hat viel Herzblut in dieses Stück eingehen lassen: Zwar sind die Finessen im Klang des Orchester begrenzt, die Akustik deckelt ihn zusätzlich noch ein. Aber die witzig-brillanten Rhythmen, die schmeichelnd melodiösen Tänze, die melancholischen Arien und das von Tschaikowsky in seiner Tiefenstruktur wundervoll ausgearbeitete Orchester lässt Ziemen blitzsauber darstellen. Getroffen ist die Varianz des Tonfalls, der mal an die Schwermut von „Eugen Onegin“, mal an den majestätischen Glanz der „Jungfrau von Orleans“ erinnert, in der satirischen Überzeichnung des hymnischen Geschmetters der nationalistischen Gesänge bei Hofe und der munteren Beweglichkeit der Volksszenen aber eine ganz eigene Haltung entwickelt. Dem Chor hat Achim Falkenhausen Kraft und Fülle, nicht aber die „russische“ sonore Homogenität antrainieren können.
Bildrechte: Theater für Niedersachsen Hildesheim
Gesungen wird in Hildesheim auf durchweg erfreulichem Niveau: Neele Kramer gestaltet mit klangsattem Mezzo und süffisantem Tonfall die Hexe Solocha, Katja Bördner ist als Oxana ein bisschen selbstverliebt als „schönstes Mädchen auf der ganzen Welt“ sogar in der italianisierenden Koloratur unterwegs, bemüht sich als Verliebte mit sympathisch warmem Timbre um ein glücklich gespanntes Legato. Peter Kubik hat für die hohen Tönen in des Teufels Auftritt nur wenig Stütze, gestaltet aber seine rezitativischen Passagen mit bewusstem Einsatz von Tonfall und Artikulation.
Uwe Tobias Hieronimi setzt einen kraftvollen, weiträumigen Bass ein, mit dem Levente György (Dorfschulze) und Julian Rohde (Schulmeister) reibungslos harmonieren. György darf als „Durchlaucht“ in beachtliche Höhen aufsteigen, Jesper Mikkelsen gibt einen markanten Zeremonienmeister. Für die groß angelegte Partie des Wakula hat Hildesheim Wolfgang Schwaninger gewonnen. Er musste sich ansagen lassen, aber der Kampf gegen die Erkältung war höchstens zu erahnen, wenn er in der Höhe oder beim Zurücknehmen der Stimme ins Piano Vorsicht walten ließ; ansonsten zeigte er einen ungetrübt kernig-kraftvollen Tenor.
Fazit: Die „Spielfreude und Experimentierlust“, die GMD Ziemen anlässlich seiner Vertragsverlängerung Ende November angekündigt hat, findet in dieser Tschaikowsky-Rarität eine respektable Bestätigung. Es ist zu hoffen, dass solcher Einsatz für Wege abseits des Mainstreams nach dem Ende der Intendanz von Jörg Gade ab 2020 auch unter dem neuen Chef des Theaters für Niedersachsen, Oliver Graf, möglich bleibt.
Man wundert sich, dass in dreißig Jahren niemand auf die Idee gekommen ist, wenigstens einige der überflüssigen „Neudeutungen“ von „Hänsel und Gretel“ durch ein so reizendes Werk zu ersetzen. Und man stimmt dem Autor Iwan Knorr zu, den bereits um 1900 der mangelnde Erfolg der Oper verwunderte: „Phantastische und derbkomische Elemente drängen sich aufeinander und schaffen Situationen, welche dem Musiker reichliche Gelegenheit zur vollen Entfaltung seiner Kunst darbieten. Tschaikowsky hat mit fester Hand zugegriffen und eine Musik geschaffen, die eine seltene Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Styls zeigt.“
Werner Häußner