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HILDESHEIM: DIE BLUME VON HAWAII – Premiere

Vom Paradies am Meeresstrand kann keine Rede sein

06.05.2018 | Operette/Musical

HILDESHEIM: DIE BLUME VON HAWAII – Premiere
am 5.5.2018 (Werner Häußner)

Vom Paradies am Meeresstrand kann keine Rede sein. Was uns Julie Weideli auf der Bühne des Theaters für Niedersachsen in Hildesheim zeigt, ist der Eingangsbereich eines heruntergekommenen Kinos. Trübes Licht, statt blitzender Sterne am Firmament einige Reihen glimmender Funzeln. Der „Filmpalast Hawaii“ ist eine Stätte mit staubiger Patina, in die sich Menschen flüchten, deren Kleider in verblassten Farben signalisieren, dass auch über ihrem Leben eine Grauschicht liegt.

Vom farbenfrohen Exotismus, den Paul Abrahams Operette „Die Blume von Hawaii“ seit 1931 mit Riesenerfolg hervorgelockt hat, gönnt uns auch Regisseurin Tamara Heimbrock keine Spur. Die Akteure, auch im fiktiven Hawaii, tragen europäische Kleidung. Das „bunte Meer von Blüten ringsumher“ reduziert sich auf ein paar billige Blumenkränze und das großgeblümte Kleid der kleinen Raka, die auf hawaiianisches Naivchen macht, um sich eine gute Partie zu sichern, in Wirklichkeit aber mehrere Sprachen spricht und sich von keinem Mann etwas vormachen lässt. Und der faszinierend-fremde Flair, der den schwarzen Jim Boy umgeben soll, wird sensibel für die Rassismus-Empfindlichkeit der Gegenwart auf ein Indiz heruntergebrochen: Schaut her, wie ich mich schwarz schminke. Zuvor war Jim Boy eine Lady mit wallendem Haar: Das „Anderssein“ spiegelt sich im Transvestiten eher als im Schwarzen.

So arbeitet Tamara Heimbrock die melancholischen Fiktionen der „Blume von Hawaii“ heraus und verweigert dabei konsequent übliche Operettenklischees und das Bedienen von Entertainment-Erwartungen: Kino und Bar  sind eigentlich traurige Orte für verlorene Menschen. Was ihnen das Leben vorenthält – das war in der Elendszeit 1931 anders, aber ähnlich aktuell wie heute –, holen sie sich in Traumfabriken. In der Operette und im Film vergaßen die Menschen für ein paar Stunden die bedrückenden Verhältnisse; mondäne Bars und lausige Vorstadt-Tschocherln überspielten die Misere mit Alkohol und feilen Frauen.

In Hildesheim zeigt Heimbrock, dass die Illusionen brüchig sind: Peter Kubik als Kapitän Harald Stone etwa verwandelt den fröhlichen Kolonialismus des Marsches „Wo es Mädels gibt, Kameraden“ in einen bitteren Song der Resignation. So kann man einen Text unberührt lassen, aber hinter der Naivität seiner Aussagen einen Kontext entdecken, der auf einmal die ach so harmlose Unterhaltung bedeutungsvoll auflädt. Heimbrock geht mit diesen Stilmitteln sehr versiert um: So macht man Operette.

Doch solche Blicke in die Tiefe bedeuten nicht, auf Humor zu verzichten. Bei den durchweg engagierten Darstellern sitzen Wortwitz und das Timing der Gesten und Bewegungen. Und für die große Show sorgt der sonst in Coburg tanzende Jaume Costa i Guerrero: Er entwickelt seine Debüt-Choreographien auf den Punkt, lässt sie aus einfachen Bewegungen aufkeimen und führt sie mit Tempo und Stringenz zum perfekt mit der Musik korrespondierenden Tableau. Opern- und Jugendchor des Hildesheimer Theaters verdienen ein dickes Lob.

Was die Premiere von Paul Abrahams Operette aber zum Ereignis machte, war die musikalische Seite: Am Pult steht nicht der in der Hackordnung letzte Kapellmeister, sondern Generalmusikdirektor Florian Ziemen höchstpersönlich – und signalisiert damit den Stellenwert der Kunstform Operette am Haus. Ziemen hat mit Produktionen wie „Viktoria und ihr Husar“ in Gießen oder „Der Vetter aus Dingsda“ in Karlsruhe erfolgreich gezeigt, wie ein kritischer Umgang mit dem Genre auf der Basis von Quellenstudien und aufführungspraktischen Forschungen zu faszinierenden Ergebnissen führt.

So auch in Hildesheim: Basis der Aufführung ist das Material von Henning Hagedorn und Markus Grimminger, das auf der „Zentralpartitur“ Paul Abrahams basiert. Das Besondere: Abraham schreibt für einen riesigen Orchesterapparat, überlässt es aber den Interpreten, die Besetzung nach ihren Möglichkeiten und vor allem nach ihren Wünschen einzurichten. Ziemen reduziert kräftig, um den Sängern – zum Glück ohne Mikroport – einen lockeren, anstrengungsfreien Ton zu ermöglichen. Er nimmt zurück, wo es auf das Wort ankommt, lässt Klangfarben schillern, wo das Orchester den Vorrang hat. Von Saxofon und Sousaphon über Banjo bis Hawaii-Gitarre wird kein Aufwand gescheut. Auch wenn der Sound manchmal schmeichelnder und üppiger klingen könnte: Der Spaß, den dieses freie Spiel mit Farben und Rhythmen macht, ist immens.

Dazu kommt, dass die Freiheit, die Abraham gewährt, intelligent genutzt ist: Improvisation und Spontaneität haben ihren Platz. Der Begriff der „Jazz“-Operette ist nirgends angebrachter als bei der „Blume von Hawaii“. Denn Abraham bringt nicht nur Instrumentarium und Sound des Jazz in die Musik, sondern er versucht das scheinbar Unmögliche, ein großes Orchester an die Freiheit einer Jazz-Formation anzunähern.

Und Florian Ziemen schafft es mit dem Hildesheimer Orchester tatsächlich, sich vom Buchstaben der Noten zu lösen und den Geist jazziger Improvisationen einzuholen: Wenn sich die Menschen auf der Bühne in einem Moment selbstvergessener Tollheit fragen, was denn der „Gentleman im Dschungel“ zu tun habe, imitieren die Solisten des Orchesters Tierstimmen, Naturlaute und chromatisch gewagte Ausrutscher auf tonartlich glitschigem Terrain – und das alles in einem köstlichen Chaos, das tatsächlich an die bunte, anarchische Lautwelt einer üppigen Tropennatur erinnert.

Auch im berühmten „Schwipserl“-Song scheint es so, als sei dem Orchester wie der Sängerin auf der Bühne „heut alles egal“: Die metrische Form weicht auf, die Instrumente glucksen und brabbeln sich aus dem rhythmischen Gerüst heraus und torkeln frei durch den Tonraum. Das sind Mundstücke in Schnaps eingelegt, Rohrblätter mit Rum getränkt, Saiten mit Piña colada geschmiert. Das Orchester moduliert sich in den Rausch hinein, der die Chansonette auf der Bühne zum Schwanken bringt.

Meike Hartmann in der Doppelrolle der französischen Sängerin Suzanne Provence und der hawaiianischen Prinzessin Laya hat in dieser Szene einen großen Auftritt. Ihre Stimme ist eher vom feinen, kessen Timbre einer Soubrette charakterisiert und passt daher weniger zu den sentimentalen Nummern („Kann nicht küssen ohne Liebe“), aber ihre präzise Artikulation und die präsente Sprechstimme lassen die Szenen, in denen sie sich selbst und ihre Rolle findet, sehr überzeugend wirken: eine junge Frau, die sich vom Abenteuer, vom freien Spiel der Fantasie, aber auch vom Gedanken der Macht faszinieren lässt.

Da die Regie darauf verzichtet, die politischen Dimensionen des Stücks – die Prinzessin als letzte Hoffnung im Freiheitsstreben des von den Amerikanern besetzten Inselkönigreichs – herauszuarbeiten, haben es die Männer schwerer, sich zu profilieren: Ziad Nehme kann als Prinz Lilo-Taro nicht überzeugend vermitteln, wie sich die Pflicht zur Liebe zu einer fremden Frau, die ihm in einer Kinderhochzeit angetraut wurde, in eine echte Zuneigung verwandelt. Zumal er seiner schmalen Stimme ein schlagendes Vibrato aufdrückt und damit jeden Anflug von Legato zunichtemacht.

Unterbelichtet lässt Tamara Heimbrock auch das komplexe Verhältnis des Buffo-Paares: Der Kampf von Aljoscha Lennert (der Buffo heißt tatsächlich Buffy!) aus der Schreibstube des amerikanischen Gouverneurs hin zum Herz von dessen Nichte Bessie (Neele Kramer mit forschem Temperament) bleibt eine nette Beigabe und sorgt für ein paar wichtige, aber eher hastige als flotte Dialogszenen im eh gefährlich langen dritten Akt. Levente Gyögy als Kaluna zieht die Fäden in der hawaiianischen Verschwörung, aber das Konzept lässt ihm kaum Spielraum, seiner Rolle Gewicht zu geben. Als Gouverneur driftet Jesper Mikkelsen zu sehr in die Richtung des alten, vertrottelten Komödianten – ein eher jovialer als zynisch angehauchter Exekutor der Kolonialmacht. Antonia Radneva kann stimmlich nicht beglaubigen, dass Raka irgendeine Anziehung auf Männer ausüben könnte, und bei Uwe Tobias Hieronimi als Jim Boy ist die Regie so sehr in die Travestie verliebt, dass die melancholischen Seiten musikalisch markant, szenisch aber gewichtslos vorbeihuschen.

Das Hildesheimer Theater hat mit einer mustergültigen Einrichtung der „Blume von Hawaii“ die Messlatte sehr hoch gesetzt; künftige Produktionen, so im Sommer beim Lehár Festival in Bad Ischl ab 14. Juli, werden sich am musikalischen Standard dieser Aufführung messen lassen müssen.

Werner Häußner

 

 

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