Brahms, Schostakowitsch im Dialog der Extreme und im Sturm der Hustenviren
Zoi Tsokanau – Copyright by Amanda Protidou
Am 20. November 2024 lud das Hessische Staatsorchester Wiesbaden unter der Leitung der griechischen Dirigentin Toi Tsokan zu einem sinfonischen Abend der Kontraste ins Kurhaus Wiesbaden ein. Auf dem Programm standen Johannes Brahmsʼ Klavierkonzert Nr. 2 in B-Dur und Dmitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 5 in d-Moll – zwei Werke, die emotional und musikalisch Welten voneinander entfernt sind, aber gleichermaßen von höchster Intensität. Der Abend versprach nicht nur pianistische Virtuosität, sondern auch orchestrale Dichte und Tiefgründigkeit.
Brahmsʼ Klavierkonzert Nr. 2 in B-Dur ist eine der monumentalsten Kompositionen für Klavier und Orchester. Mit seinen vier Sätzen bricht es die klassische Form des dreisätzigen Konzerts und entfaltet in fast 50 Minuten ein Klanguniversum, das von dramatischer Erhabenheit bis zu intimer Lyrik reicht. Der erste Satz beginnt unkonventionell mit einem Solo des Horns, das eine lyrische Motivzelle vorstellt, auf die das Klavier mit dynamischen Läufen antwortet. Besonders hervorzuheben ist der dritte Satz, der sich in Form eines Andante und mit einer Cello-Kantilene von liedhafter Schönheit entfaltet. Ein lebhaftes Rondo-Finale beschließt das Werk mit tänzerischer Ausgelassenheit und ungarisch anmutendem Kolorit – ein würdiger Abschluss, der Brahmsʼ Gespür für folkloristische Einflüsse feiert.
Simon Trpčeski – Copyright by Benjamin Ealovega
Simon Trpčeski, in Mazedonien geboren, begann an der Musikfakultät der Universität St. Cyril und St. Methodius in Skopje, bevor er 2003 als BBC New Generation Artist international in Erscheinung trat. Die Royal Philharmonic Society verlieh ihm im selben Jahr den Young Artist Award, und seitdem konzertiert er weltweit mit führenden Orchestern und Dirigenten. Seine Einspielung von Brahmsʼ Klavierkonzerten mit dem WDR Sinfonieorchester und Cristian Măcelaru 2023 fand international große Anerkennung.
Trpčeski zeigte sich als technisch versierter Solist, dessen kraftvolles, zupackendes Spiel und präziser Anschlag Brahmsʼ komplexer Partitur gerecht wurden. Vom ersten Satz an entwickelte sich eine ausdrucksstarke Dynamik, die einen klaren Spannungsbogen ergab. Die kühne Brillanz des zweiten Satzes, als Scherzo gestaltet, bewältigte Trpčeski mit lustvoller Spielfreude und technisch makelloser Virtuosität, wobei er die dramatischen Akzente des Orchesters in einen lebhaften Dialog überführte. Ein deutlich leidenschaftlicher Austausch. Im dritten Satz verlieh der Pianist den lyrischen Phrasen eine kantable Anmut, die mit der einfühlsamen Cello-Begleitung durch den hingebungsvollen Johann Ludwig einen intimen kammermusikalischen Moment heraufbeschwor. Das Rondo-Finale krönte Trpčeskis Darstellung: In rhythmisch beschwingten Phrasen und perlenden Läufen brachte er die volksmusikalischen Anklänge des Satzes zum Blühen und bewies große Freude am klanglichen Reichtum dieses lebhaften Finales.
Zoi Tsokanou und das Hessische Staatsorchester Wiesbaden unterstützten den Solisten mit einer gut abgestimmten Interpretation. Die Dirigentin führte das Orchester mit präziser Zeichengebung und lebendiger Gestaltungskraft, sodass die komplexe Struktur der Sätze transparent blieb und die orchestralen Farben fein ausdifferenziert zur Geltung kamen. Das Hessische Staatsorchester zeigte sich in allen Registern klanglich prächtig und technisch souverän, besonders in den markanten Bläserpassagen und dem samtigen Streicherklang, der in den lyrischen Momenten mit dem Klavier verschmolz. In guter Form zeigte sich die Gruppe der viel geforderten Hörner. Das begeisterte Publikum erhielt als Dank und Geste des Friedens eine ungewöhnliche Zugabe: einen langsamen Satz aus einem Klavierquartett von Johannes Brahms mit den Mitgliedern des Hessischen Staatsorchesters. Ein berührender Moment voller Innigkeit.
Dmitri Schostakowitschs 5. Sinfonie ist eine musikalische Antwort auf die stalinistische Repression und zeigt in ihrer Struktur und Tonalität eine doppeldeutige Haltung gegenüber dem sowjetischen Regime. Nach der harschen Kritik an seiner Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ galt die Sinfonie von 1937 als der Versuch, die Erwartung an einen patriotischen, heroischen Stil formal zu erfüllen. Der trügerische Jubel des Finales lässt jedoch Zweifel aufkommen: Der triumphale Marschcharakter weckt ebenso den Verdacht auf Ironie und Widerstand, wie er eine versöhnliche Geste an die Obrigkeit darstellt. Diese Ambivalenz durchzieht die gesamte Sinfonie und verleiht ihr eine unheimliche Spannung.
Unter Zoi Tsokanaus Leitung wurde die sinfonische Architektur des ersten Satzes mit klarer Kante und plastischer Spannung ausgearbeitet. Die Dirigentin kennt das Werk hörbar gut und sie arbeitete sie sich zielstrebig mit dem hingebungsvollen Hessischen Staatsorchester durch die Partitur. Ihr unbedingter Wille voranzugehen, trieb die ruhigen Momente etwas forciert voran, was das kantable Eingangsthema, das nach wenigen Minuten in den Streichern beginnt und den Schluss des ersten Satzes etwas der Wirkung beraubte. In diesem Abschnitt beeindruckte besonders das Solo der Violine, das die erdrückende Tragik der Musik spürbar machte und in der von Tsokanou zurückhaltend geführten Orchesterbegleitung eine dramatische Tiefenwirkung entfaltete.
Im zweiten Satz, einem sarkastisch anmutenden Tanz, verschmolzen die wechselnden Tempi und der groteske Humor in den Holzbläsern zu einer beißenden Ironie. Tsokanou akzentuierte diese düsteren, fast parodistischen Momente klar, ließ das Orchester jedoch nicht in übermäßigen Sarkasmus verfallen. Konzertmeister Alexander Bartha traf in seinem Solo genau die beabsichtigte Ironie.
Das anschließende Largo, eine tief emotionale Elegie, wurde von den einfühlsamen Holzbläsern und Streichern mit betonter Innerlichkeit gespielt, wobei die feine Linienführung und der leise Anklang von Hoffnung auf eindringliche Weise zum Ausdruck kamen. Die Klarinette im Dialog mit der Flöte erzeugte eine klangliche Transparenz, die das Publikum fesselte.
Der vierte Satz führte schließlich zum trügerischen Schlussjubel der Sinfonie. Tsokanou verstärkte den pompösen Marschrhythmus mit einer fast aufdringlichen Vehemenz und machte das Aufbrausen des Blechs zur bitteren Satire, die Schostakowitschs Protest und innere Zerrissenheit eindrucksvoll zum Ausdruck brachte. In den abschließenden Takten, in denen sich vermeintlicher Triumph und versteckte Tragik überlagern, hielt Tsokanou das Orchester in einem Spannungsfeld, das den vermeintlichen Jubel zu einer beunruhigenden Maskerade machte. Sehr deutlich kam hier die Doppelbödigkeit zum Ausdruck, was sich auch in der Reaktion des Publikums zeigte, das sich in seiner Erschlagenheit erst einmal sammeln musste, bevor es seine lang anhaltende Begeisterung zeigte.
Unter der anfeuernden Leitung von Zoi Tsokanau präsentierte das Hessische Staatsorchester Wiesbaden eine beeindruckende Leistung, die vor allem durch die feinsinnige Klangkultur der Streicher und die ausdrucksstarke Farbgebung der Holz- und Blechbläser begeisterte. Während die Streicher ein breites dynamisches Spektrum entfalteten, steuerten die Holzbläser mit klanglicher Präzision und warmem Timbre entscheidende emotionale Momente bei. Die Blechbläser beeindruckten durch klare Linien und kräftige Akzente, ohne ins Forcierte zu geraten. Auch die beiden Harfen trugen mit klar artikulierten Beiträgen zur Transparenz des Orchesters bei.
Ein Wermutstropfen war jedoch das Schlagwerk. Axel Weilerscheidt an der Pauke agierte gewohnt souverän und verlässlich. Anders die Kollegen an der kleinen Trommel, dem Tam Tam und den Becken: Präzision und klangliche Präsenz ließen hier zu wünschen übrig. Besonders die Becken enttäuschten mit mattem, glanzlosem Klang, der in einem Werk von solcher dramatischer Wucht nicht verzeihlich ist. Ihre klangliche Schwäche trug dazu bei, dass entscheidende musikalische Höhepunkte, vor allem im Finale, deutlich an Wirkung einbüßten. Auch die mangelnde Präzision der kleinen Trommel und das zu früh einsetzende Tam Tam im vierten Satz störten das Gesamtbild.
Dennoch zeigte das Hessische Staatsorchester Wiesbaden an diesem Abend eine beeindruckende Gesamtleistung. Mit Brahmsʼ Klavierkonzert und Schostakowitschs Sinfonie stand ein ebenso kontrastreiches wie anspruchsvolles Programm auf dem Pult. Simon Trpčeski faszinierte mit seiner klanglichen Lust und technischer Brillanz, während Tsokanau die emotionale, klangliche Tiefe von Schostakowitschs ambivalenter Sinfonie sensibel herausarbeitete.
Leider war der Genuss des Abends durch äußere Störfaktoren erheblich beeinträchtigt: Der „Wiesbadener Hustenverein“ ließ sich an diesem Abend in voller Stärke vernehmen, begleitet von störenden Mobiltelefonklingeltönen und einem anhaltenden, hohen Summton, der regelmäßig im Kurhaus Wiesbaden die Akustik beeinträchtigt. Eine Unachtsamkeit, die gerade bei einem Konzert dieser Qualität besonders bedauerlich ist.
Trotz aller Störungen bleibt der Abend in musikalischer Erinnerung: die romantische Klangfülle Brahmsʼ, die düstere Doppelbödigkeit Schostakowitschs und die souveräne Interpretation durch Orchester und Solist. Ein Konzert, das die Schönheit und die Widersprüchlichkeit der Musik in den Mittelpunkt stellte – und das Publikum, trotz aller Nebengeräusche, nachhaltig beeindruckte.
Dirk Schauß, 21. November 2024
Besuchtes Konzert im Kurhaus Wiesbaden am 20. November 2024
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden
Simon Trpčeski, Klavier
Zoi Tsokanau, musikalische Leitung