HERNE / Tage Alter Musik: CAMILLA von Giovanni Bononcini (konzertant) am 15.11.2015 (Werner Häußner)
Vor 300 Jahren ein Kultstück, heute vergessen: Die „Tage der Alten Musik in Herne“ erfüllten mit Giovanni Bononcinis Oper „Camilla“ eine der vornehmsten Aufgaben eines solchen Festivals: ins Licht der Gegenwart zu rücken, was uns auch nach so langer Zeit noch etwas zu bedeuten hat, das reiche Erbe europäischer Musik unseren Ohren zu erschließen. Dass der Westdeutsche Rundfunk gemeinsam mit der Stadt Herne dieses Festival nun zum vierzigsten Mal ausrichtet, gehört zu den Ruhmesblättern des öffentlich-rechtlichen Mediums. Hier sind Gebühren gut angelegt.
„Camilla“ stand am Beginn des Hypes der italienischen Oper im vergnügungssüchtigen London des beginnenden 18. Jahrhunderts. Der große Brand der Stadt lag vierzig Jahre zurück, der alte Glanz hatte sich wieder eingestellt. Queen Anne, die letzte Stuart-Königin auf dem englischen Thron, mühte sich nach der „Glorious Revolution“ von 1688 um innenpolitische Stabilität, aber die alten Gegensätze zeigten sich sogar auf dem Feld der Musik: Als Bononcini 1720 unter Händel Komponist der Royal Academy of Music wurde und den Star aus Halle mit eigenen Opern ins Abseits stellte, spaltete sich das Publikum in Anhänger des einen und des anderen – wobei die Politik eine subkutane Rolle gespielt haben dürfte: Händel stand für die neue – protestantische – Herrscherdynastie aus Hannover, Bononcini für die aus dem öffentlichen Leben weitgehend verbannten Katholiken und Anhänger der Stuarts.
„Camilla“ war damals schon „alte Musik“, wurde aber in London bis 1728 in einer sagenhaften Aufführungsserie von 111 Abenden gespielt, wie Dramaturgin Sabine Radermacher in ihrem sorgfältig recherchierten Programmheftbeitrag vermerkt. Die Oper war ein Stück Nostalgie für eine ganze Generation. Aber ihre Botschaft dürfte über das übliche Interesse an herrscherlichen Ränkespielen, entflammten Affekten und Leidenschaften und komischen Verwicklungen hinaus wahrgenommen worden sein. Das Libretto von Bononcinis begabtem Mitarbeiter Silvio Stampiglia mag in der entmachteten Königin Camilla aus dem sagenhaften vorrömischen Reich der Volsker die Engländer an die eigenen bedrängten Königinnen erinnert haben. Und die Botschaft, über die politischen Interessen und Zugehörigkeiten hinaus dem Frieden und der Liebe zu frönen, mag dem Zeitgeist entgegengekommen zu sein: Man hatte Hass und Blut nach zwei Generationen des politischen Hin und Hers wohl einfach satt.
Heute kommt Bononcinis Camilla über das Gewirre der Barockopern-Kabale nicht mehr hinaus: Die Wechselbäder von Leid und Liebe, Triumph und Ohnmacht, Wahrheit und Verstellung sind zu krass konstruiert, um wenigstens noch einen Rest Glaubwürdigkeit zu bewahren. Was aber bleibt, haben schon die Zeitgenossen Bononcinis gerühmt: sein Talent für den pastoralen Stil, seine originellen Harmonien und seine graziösen und eleganten Melodien. Die konzertante Aufführung im Kulturzentrum Herne ließ es vernehmlich werden: feinsinnige Lyrik, versonnene Schwermut, in Schönheit leuchtenden Schmerz komponiert Bononcini mit so viel Eleganz und emotionaler Wahrhaftigkeit, dass es verständlich wird, warum die Londoner auf ihn flogen.
Den Verdienst, den in der Gruft der Geschichte erblindeten Edelstein neu aufzupolieren und in Glanz und Wonne auszustellen, gebührt in erster Linie dem Elbipolis Barockorchester aus Hamburg mit Jürgen Groß als Konzertmeister und Jörg Jacobi am Cembalo. In den gut zweieinhalb Stunden Musik war kein Nachlassen der Konzentration, der exakten Formulierung, der rhythmischen Präzision und metrischen Wachheit, der Phrasierungs-Eleganz und Intonationssicherheit festzustellen. Aber mehr noch: Die transparente Abstimmung und Mischung der Instrumente und das detailbewusste Spiel der fünfzehn Musiker garantierte ausdrucksstarke Farben: eine edel ebenmäßige Blockflöte (Elisabeth Champollion), zwei durchsetzungsfähige, saubere Oboen (Luise Haugk, Markus Müller), ein mal trauerschweres, mal burleskes Fagott (Stephan von Hoff), ein filigran-virtuoses Cello (Hannah Freienstein) und die präsente, reizende Koloristik oder versonnene Soli beitragende Theorbe (Johannes Gontarski).
Die gepflegte, ausgefeilte Wiedergabe von Bononcinis Musik hatte freilich auch einen Nachteil: Den Willen zum expressiven Risiko, zum theatralisch geschärften Ton, zur gestischen Prägnanz brachten die Hamburger nicht mit. Die Ausbrüche der Wut, der Hilflosigkeit, der Verzweiflung blieben distinguiert wie eine englische Nachmittags-Teegesellschaft. Und die drolligen Szenen zwischen Tullia und Linco – dem „niederen“ Paar – kamen so seriös daher wie das unfreiwillige parodistische Potenzial der „hohen“ Gestalten, das schon die Zeitgenossen erkannt hatten.
Ironie und humorvolle Distanz hätten dem Stück gut getan, auch bei den Sängern, die sich von der Tendenz zu seelenvoller Larmoyanz nicht ganz fernhalten konnten. Wieder einmal zeigte sich, dass eine konzertante Wiedergabe einer Oper nur eine halbe Sache ist: Eine lebendige Bühnenaktion hätte vieles unterstreichen können, was an szenischem Potenzial in der Musik angelegt ist, aber nicht ausgespielt werden konnte. Nur der gut gelagerte Bass von Simon Robinson mit seinem gestaltungsfähigen Kern und der rhetorisch talentierte Tenor Michael Connaire schärften an ihren Figuren, dem getäuschten Eroberer und verbohrten Vater Latinus und dem unter Verkleidung schmachtenden, aber auch aufbrausenden Liebhaber Turnus, rhetorisch lebendige Konturen. James Elliott als Prenesto demonstrierte exemplarisch, wie problematisch Gesangskultur des 18. Jahrhunderts auf die Gegenwart zu übertragen ist: Der angestrebte schlanke, feine, bewegliche Ton geht auf Kosten der unverzichtbaren Stütze der Stimme; die dünne, manchmal quetschige Formung des Klangs lässt nur wenig flexible Farben zu, und von technischer Brillanz bei den Verzierungen zu sprechen fällt schwer.
Ohne komödiantischen Aspekt trugen Cécile Kempenaers und Konrad Jarnot das Dienerpaar Tullia und Linco vor: Der so großmäulige wie kleinlaute Diener verharrte mit dem versierten Liedsänger Jarnot im Bereich gepflegter Lyrik; die gewitzte junge Frau hat eine virtuose Arie mit Begleitung der Piccoloflöte im zweiten und zarte Kantilenen im dritten Akt, aber beide blieben lediglich fein ausgearbeitet, gewannen mit der schmalen Stimme keinen Esprit. Auch den beiden Heroinen des Stücks, Julia Sophie Wagner (Camilla) und Marysol Schalit (Lavinia) mangelte es nicht an lyrischer Intensität im Sehnen und Lieben, einem schlank-innerlichen Ton im Leid. Aber das entscheidende Quantum vokalen Exhibitionismus‘, das auffahrende Temperament oder die vitale Brillanz ließen beide mit ihrem zaghaften vokalen Zugriff auf ihre Figuren vermissen. Nun ja – wenigstens in der Aufnahme, die den Tonmeister vor einige Herausforderungen stellte, dürfte sich diese Keuschheit im Theatralischen vorteilhaft auswirken.
Werner Häußner