Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

HELGOLAND/ St. Nikolai: „KLANGZAUBER HOLZBLÄSER“ (Sigandor Quintett)

14.08.2023 | Konzert/Liederabende

Helgoland: „KLANGZAUBER HOLZBLÄSER“ (Sigandor Quintett) – St. Nikolai 13.8.

Man erwartet das eigentlich nicht, aber die evangelisch-lutherische Kirche St. Nikolai auf der kleinen Insel Helgoland in der Deutschen Bucht – gut 60 km nordwestlich von Cuxhaven – hat eine lange Tradition hochwertiger kammer- und kirchenmusikalischer Angebote während der Sommersaison. Sie dürfte zurückgehen auf den jahrzehntelang unermüdlich tätigen Inselkantor Martin Kirchner, der leider ziemlich in Vergessenheit geraten zu sein scheint, und sie ging zwischenzeitlich auch ein wenig verloren. Der aktuelle, seit 2017 amtierende Inselkantor Gerald Drebes hat sie mit Erfolg wieder aufgegriffen und als Veranstalter und Mitwirkender auch über die Corona-Pandemie hinweggerettet.

Und so dürfen wir zusammen mit anderen Feriengästen und einigen Einheimische am Sonntagabend in der stimmungsvollen Inselkirche einen Konzertabend erleben, dessen Motto „Klangzauber Holzbläser“ nicht übertrieben erscheint. Es gastiert das 1984 gegründete Sigandor Quintett. Aus Verbundenheit mit der See hat sich das Ensemble nach einem historischen Segelschiff namens Sigandor benannt, das seinen Heimathafen lange in Flensburg hatte und 2022 auf die Insel Rügen in den Fischerort Gager gewechselt ist. Die Mitglieder des Quintetts, größtenteils Angehörige renommierter deutscher Sinfonieorchester, nutzen die spielfreie Sommerpause alljährlich zum anspruchsvollen kammermusikalischen Zusammenspiel und verbinden das mit einer Konzerttournee entlang der deutschen Nord- und Ostseeküste (mit einer Vorliebe für die vorgelagerten Inseln). Die Seereise nach Helgoland bedeutet dabei immer einen besonderen Aufwand und ein besonderes Erlebnis. 1984 begann dort die erste Tournee, heuer ist die Kirche auf dem roten Sandsteinfelsen Endpunkt der Konzertreise.

Zur aktuellen Besetzung des Sigandor-Quintetts gehören: Sophie-Therese Löser (Flöte, als jüngstes Ensemblemitglied zuletzt Akademistin des Philharmonischen Orchester Erfurt und Spezialistin für die in diesem Konzert oft eingesetzte Piccoloflöte), Sebastian Röthig (Oboe und Englischhorn, Staatsorchester Darmstadt), Ulrich Büsing (Klarinette, HR-Sinfonieorchester Frankfurt), Isabel Schmitt (Horn, nach Orchesterstellen in Darmstadt und Würzburg nun in der Lehre tätig) sowie Philipp Nadler (Fagott, Niederrheinische Sinfoniker Krefeld-Mönchengladbach). Ihr diesjähriges Tourneeprogramm haben sie unter dem Aspekt der Vielfalt in puncto Stil, Besetzung und Entstehungszeit ausgewählt, und in nur 90 Minuten (einschließlich Pause) entfalten sie ein wahres Feuerwerk kompositorischen und instrumentalen Könnens.

Einigermaßen vertraut in seinem von der Wiener Klassik geprägten Stil erscheint das Quintett Es-Dur op. 88 Nr. 2 von Antonin Reicha (1770-1836). Immer wieder fühlt man sich an Haydn, Mozart oder Beethoven erinnert – sei es in der Melodieführung, der Themenbildung, der Binnendramaturgie oder dem kompositorischen Esprit. Besonderen Wert hat Reicha offensichtlich auf den „durchbrochenen“ Kompositionsstil gelegt, bei dem jedes der beteiligten Instrumente zwischenzeitlich die Führungsrolle übernimmt und von den anderen begleitet wird. Das klassische Modell dafür ist das Streichquartett. Die Übertragung dieser Technik auf Bläserquintett sorgt nicht nur für eine besondere Farbigkeit des Klangs und Abwechslung beim Hörer; sie fordert auch besondere Virtuosität, wenn dem Fagott oder dem Horn eine eben solche Geläufigkeit abverlangt wird wie Querflöte oder Klarinette. Der gebürtige Böhme Reicha fand, als er 1808 von Wien nach Paris zog, entsprechend hoch qualifizierte Instrumentalisten vor; die sie komponierten Bläserquintette wurden stilprägend für die Gattung. In eben dieser kompositorischen Tradition steht auch Alexander Zemlinksys „Humoreske“ aus dem Jahr 1941. Deren humoristischer Ton überrascht, wenn man bedenkt, dass der Komponist selbst damals im US-amerikanischen Exil vergessen, verarmt und ernsthaft erkrankt um seine Existenz kämpfte und nur noch ein Jahr zu leben hatte. Aber vielleicht liegt der Vorzug guter Musik darin, dass man über ihr auch die schwierigsten Lebensumstände wenigstens vorübergehend vergessen kann. Dem hohen Niveau zeigt sich das Sigandor-Quintett spielend gewachsen.

Zwei Werke des Abends erklingen in reduzierter Trio-Besetzung. Antonio Vivaldis Triosonate op. 1 Nr. 12 („La Follia“) für zwei Violinen und Basso Continuo interpretiert Sigandor vor der Pause mit Piccoloflöte, Oboe und Fagott. Die titelgebende Melodie („Die Verrücktheit“, „Der Wahnsinn“) war in der Barockzeit das, was man heute im Jazz einen „Standard“ nennt: Eine beliebte Vorlage für oft virtuose Improvisationen und Variationen. Die ungewöhnliche Besetzung hat den Vorzug, dass sie die Konturen zu schärft; die Geläufigkeit, mit der die Bläser die vorgeschrieben „wahnsinnigen“ Streicherfigurationen herausbringen, wirkt auf den Zuhörer fast atemberaubend. Als zweites Trio gibt es nach der Pause mit „Episode“ von  Thomas Stöß (Jg. 1969) eine der 30 Mikrokompositionen zu hören, die 2020 während des langen Corona-Lockdowns auf Initiative des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) entstanden. Dieser suchte nämlich während der Zwangspause des Konzertlebens Miniaturwerke mit Bezug zu Mitteldeutschland, die ebenso originell wie radiotauglich waren und von Angehörigen der MDR-Ensembles eingespielt werden konnten. Stöß, der in Chemnitz als freischaffender Komponist und Dozent an der dortigen Städtischen Musikschule wirkt, komponierte „Episode“ auf eine der heute noch populären „Vater-und-Sohn“-Bildergeschichten von Erich Ohser (1903-1944), die dieser unter dem Pseudonym e. o. plauen veröffentlichte. Der Bildstreifen mit dem augenzwinkernden Titel „Segen ist der Mühe Preis“ zeigt den Vater auf dem Fahrrad, während sich der kleine Sohn von hinten an ihn klammert, bis der Vater vom Rad stürzt und er selbst auf die Straße purzelt. Im letzten Bild sehen wir den Vater mit verbundenem Kopf und bandagiertem rechten Arm fröhlich pfeifend sein Fahrrad lenken, während der Bub ebenso fröhlich pfeifend hinter ihm her fährt – auf seinem eigenen Kinderfahrrad. Oboe, Klarinette und Fagott zeichnen das Miniatur-Drama in knapp zweieinhalb Minuten nach. Der erste, quirlig-polyphone Teil mündet nach leichter Beschleunigung in einen recht sanften Sturz; der zweite, witzig begleitete Abschnitt wirkt wie eine Anspielung auf die Schlager der 1920er und frühen 1930er Jahre.

Dass das Quintett sein Publikum auch mit Raritäten und anspruchsvollen Höraufgaben konfrontiert, zeigt das erste Werk nach der Pause. Ulrich Büsing hat die Sechs Burlesken op. 58 für Klavier zu 4 Händen von Max Reger bearbeitet. Auch hier hat die Besetzung den Vorteil, dass sie die Stimmführung deutlicher macht als im Original. Neben der Oboe wird auch das Englischhorn verwendet, und Büsing selbst wechselt zwischenzeitlich von der B-Klarinette zur A- und C-Klarinette. Leider rettet das die kompositorisch überladenen und zudem samt und sonders mit schnellen bis extrem schnellen Tempoangaben versehenen Stücke nach meinem Dafürhalten nicht für den Hörer. Max Regers musikalischer Humor hat wahrscheinlich ihn selbst am meisten amüsiert, und auch das Sigandor-Quintett hat offensichtlich noch Vergnügen dabei. Im Publikum sorgt selbst der letzte Satz, der das Lied „O du lieber Augustin“ verarbeitet, kaum für ein Schmunzeln. Sympathisch ist der Impuls, an die 150. Wiederkehr von Regers Geburtstag zu erinnern. Das Programm schließt mit dem Werk eines anderen Jubilars. Die „Sechs Bagatellen“ für Bläserquintett von György Ligeti (1923-2006), die auf Klavierstücke der frühen 1950er Jahre zurückgehen, wirken wesentlich packender. Das Zusammenspiel von Kontrastreichtum und instrumentaler Farbigkeit, bewusster Konstruktion und solistischer Expressivität machen die an Igor Strawinsky, Béla Bartók und der Folklore des Balkans orientierte Kompositionen zu einem veritablen Hörerlebnis.

Folkloristisch orientiert sind auch die beiden beschwingten Zugaben. Aus den 1953 für Holzbläserquintett arrangierten „Altungarischen Tänzen“ des ungarische Komponisten Ferenc Farkas (1905-2000) spielt das Ensemble den Ugrós“, einen traditionellen Springtanz. Mit dem ersten der „Three Shanties for Wind Quintett“ des britischen Komponisten Malcolm Arnold (1921-2006), einem virtuos-witzigen Arrangement des Liedes „What shall we do with the drunken sailor“, wendet sich das Programm auch atmosphärisch dem Ort des Konzertes zu. Zum stimmungsvollen Ambiente von St. Nikolai passt das besonders gut. Die Musiker stehen im Altarraum unter dem symbolträchtigen Jerusalem-Leuchter, und das Publikum wird seitlich flankiert von zwei an der Decke hängenden Votivschiffen, wie sie in den Kirchen an der Küste und auf den Inseln seit Jahrhunderten üblich sind.

Andreas Hauff

Alle kommenden Veranstaltungen dort finden Sie unter:

https://kirchenmusik-helgoland.de/termine-ab-2020/

 

Diese Seite drucken