Rätselhaftes fasziniert. Dies gilt für Edgar Allen Poes Kurzgeschichte „Der Fall des Hauses Usher“, insbesondere aber für die noch vager erscheinende Adaption des Stoffes in der 1988 uraufgeführten Kammeroper „The Fall of the House of Usher“ von Philip Glass.
In einem Brief bittet Roderick Usher seinen Jugendfreund William dringend um einen Besuch auf seinem verfallenden Landsitz. Der Eindruck, nur eine vertraute Person könne dem psychisch angeschlagenen Mann helfen, täuscht. Tatsächlich scheint Roderick’s Bedürfnis nach Nähe plötzlich verpufft zu sein. Gleichzeitig scheint er seiner Zwillingsschwester Madeline, an die sich William allerdings nicht erinnern kann, schicksalhaft verbunden zu sein. Williams Aufenthalt wird zu einer Reise in seelische Untiefen und übernatürliche Sphären. Unaufhaltsam werden die Zuschauer mit ständig neuen Varianten und Möglichkeiten von Williams Realität konfrontiert. Das Schachspiel der psychologischen Wendungen wird durch die soghafte Wirkung von Philip Glass’ Musik mit ihren halluzinatorisch kleinteiligen Klangteppichen bis zur psychotischen Extase gesteigert.
Seit Beginn der Spielzeit 2021/22 existiert in der Staatsoper Hannover ein Internationales Opernstudio, in dem junge Sängerinnen und Sänger zwischen dem Hochschulstudium und der Opernkarriere auf die Praxis vorbereitet werden. Den Mitgliedern des Opernstudios obliegt die Gestaltung dieses Abends in der intimen Spielstätte Ballhof Eins mit seinen gut 200 Sitzplätzen.
Petra Radulović begeistert mit ihrer intensiven Gestaltung als Madeline Usher © Clemens Heidrich
Auf der Bühne (Anna-Sofia Kirsch) befindet sich ein hinten ansteigender breiter quadratischer Rahmen und eine Projektionsfläche, auf der immer wieder übergroß Videos der drei Protagonisten und Szenen aus deren Jugend zu sehen sind. Auch lehrreiche Texte wie „Wie man eine Katze quält“ sind im Laufe des Abends auf dieser Fläche zu lesen. Innerhalb des Rahmens befindet sich ein schwarzer, beim Betreten leicht nachgebender Untergrund. An den beiden Seiten der Bühne sind jeweils fünf Bildschirme aufgestellt. Auf diesen erscheinen Textfragmente, die die inneren Vorgänge der Figuren offenbaren sollen und teilweise den gesungenen Text verkürzt ins Deutsche übersetzen.
Regisseurin Victoria Stevens lässt die Sänger große Emotionen durchleben und beantwortet in ihrer Inszenierung nicht wirklich, was eigentlich genau mit den Handelnden passiert ist. Missbrauch ist offensichtlich ein zentrales Thema. Die Südafrikanerin präsentiert dem Publikum viele Andeutungen, aber überlässt es einem jeden selbst, sich Gedanken zu machen und seine persönliche Interpretation des Gesehenen zu finden.
Lluís Calvet i Pey (William) und Petra Radulović (Madeline) © Clemens Heidrich
Madeline existiert in dieser Inszenierung gleich doppelt. Denn neben der jungen Erwachsenen sehen wir sie auch als junges Mädchen, die mit einer weißen Kiste in den Händen auf der Bühne erscheint. Ein Hinweis auf das Geheimnis, das die drei Erwachsenen so zu quälen scheint? Offensichtlich gebar sie ein Kind von ihrem Bruder, welches ihr nach der Geburt dann sogleich entrissen wird. Es stellen sich die Fragen „Warum spricht Madeline nicht? Was hat sie gesehen?“.
Die montenegrinische Sopranistin Petra Radulović verkörpert Madeline Usher, deren vokales Ausdrucksmittel auf den Gesang von Vokalisen beschränkt ist. Die Sängerin besticht mit ätherisch und überirdisch schön gesungenen Kantilenen und begeistert mit ihrem hohen und gleichsam tragfähigen Sopran. Vokal wie darstellerisch wirkt sie trotz einer vor der Vorstellung angesagten Erkältung taufrisch und verzaubert mit mädchenhaftem Charme. In Wien ist die an der dortigen Universität für Musik und Darstellende Kunst studierende Sängerin keine Unbekannte, denn sie war bereits als Papagena und Une pastourelle (L’Enfant et les sortilèges) im Schlosstheater Schönbrunn und als Zerlina in der Neuen Studio Bühne Penzing in der österreichischen Hauptstadt zu erleben.
Roderick Usher (Peter O’Reilly) zwischen den zwei Madelines © Clemens Heidrich
Als Roderick Usher steht der irische Tenor Peter O’Reilly auf der Bühne. Er verkörpert die seelische Zerrissenheit des Charakters und seine mutmaßlichen psychedelischen Drogentrips exzellent. Er singt dabei auf Linie und besticht durch wenige pointiert eingesetzte expressive Ausbrüche. Seinen Freund William verkörpert der katalanische Bariton Lluís Calvet i Pey mit schönem, eher leichtem und damit wunderbar zu dieser Komposition passendem Bariton. Das Ensemble wird mit Jakub Szmidt als Diener und Tobias Bialluch als Arzt bestens komplettiert.
Auch die Mitglieder des Niedersächsischen Staatsorchesters unter der Leitung von Carlos Vázquez tragen durch ihre konzentrierte Spielweise zum großen Erfolg des Abends bei. Das Orchester ist in dieser kleinen Aufführungsstätte sehr präsent, überdeckt aber die jungen Stimmen nicht, so dass ein insgesamt sehr aufgewogenes Klangerlebnis für Begeisterung sorgt.