HANNOVER: Großen Sendesaal des NDR: Andrew Manze dirigierte die NDR Radiophilharmonie.
Begeisterndes Wiedersehen
Vor wenigen Monaten erst hat sich Andrew Manze mit einer umjubelten Aufführung von Mahlers Auferstehungssinfonie nach neun erfolgreichen Jahren von seinem hannoverschen Publikum als Chefdirigent der NDR Radiophilharmonie verabschiedet. Jetzt stand er als Gast wieder am Pult seines früheren Orchesters – und begeisterte mit einem ebenso ungewöhnlich kombinierten wie intensiven Programm.
In dieser Saison hat das hannoversche NDR-Orchester keinen Chefdirigenten, da kehren gleich mehrere “Ehemalige” ans Pult der Radiophilharmonie zurück, Manze gleich mit zwei Programmen im Januar. Für das erste Konzert setzte er seine Zusammenarbeit mit Midori fort, mit der er zuletzt 2022 Beethovens Violinkonzert in Hannover aufführte. Dieses Mal stand ein zeitgenössisches Werk auf dem Programm, zugleich sicher eines der ambitioniertesten Werke der Violinliteratur jüngster Zeit. Detlev Glanert schrieb sein zweites Violinkonzert im Auftrag von Midori, er nimmt dabei Bezug auf Beethovens Brief “An die ferne Geliebte”, die Uraufführung erfolgte im Jahr 2019. Mit gut 40 Minuten ist es kein kurzes Konzert, und doch ist es von einer Fülle und Intensität, als habe Glanert mindestens noch einmal die gleiche Zeit ausfüllen können, um alles auszudrücken, was ihm wichtig war. Die drei pausenlos ineinander übergehenden Sätze, die eine Datums- bzw. Tageszeitangabe als Titel tragen und damit der Struktur des Beethoven’schen Briefes entsprechen, spiegeln vor allem ein emotionales Auf und Ab. Abschnitten äußerster Stille, vor allem der sphärisch-zurückgenommene Schluss, steht symphonisches Aufbrausen gegenüber, kammermusikalische Teile und solche, in denen Glanert das groß besetzte Orchester zum vollen Einsatz bringt, wechseln einander ab. Im Zentrum steht, als Verkörperung des Individuums, die Violine. Was Glanert dem Instrument an spieltechnischen Anforderungen abverlangt, konnte er in dieser Art und Weise sicher nur komponieren, weil er wusste, mit Midori eine Künstlerin an der Violine zu haben, die sich diesen Anforderungen nicht nur in beeindruckender Weise annehmen kann, sondern die sich das Werk vollkommen zu eigen macht, jede einzelne Note lebt. Dem zuzusehen und zu hören war eine starke, intensive Erfahrung. Andrew Manze führte die Radiophilharmonie mit der gewohnt klaren Zeichengebung und hochkonzentriert durch die komplexe Partitur. Großer Applaus für Midori, Manze, das Orchester – und Detlev Glanert, der es sich nicht nehmen ließ, nach Hannover zu kommen.
Die zweite Konzerthälfte war einem der großen Jubilare dieses Jahres gewidmet. Anton Bruckner begeht seinen 200. Geburtstag, und es war eine sehr gute und richtige Entscheidung, mit seiner zweiten Sinfonie eine der weniger häufig zu hörenden auf das Programm zu setzen. Bei vielen Komponisten ist zu bemerken, dass früheren Werken oft Reife und Tiefe fehlen, die spätere Werke ausmachen und dazu führen, dass diese populärer werden. Doch ebenso oft gilt es festzustellen, dass in diesen früheren Werken bereits eine ganze Menge des prägenden Spätstils angelegt ist. So in Bruckners zweiter Sinfonie. Viele Idiome, Finessen der Instrumentation, dynamische und rhythmische Eigenarten sind hier bereits voll entfaltet; Bruckner gelingt es nicht nur, innerhalb der Sätze seine typischen Spannungsbögen aufzubauen, über die vier Sätze hinweg vermag er eine von Satz zu Satz zunehmende Dichte und Intensität zu erzeugen, die im fulminanten Finale gipfelt. Dass Bruckner ein Komponist ist, an dem Andrew Manze viel gelegen ist, war zu sehen und zu hören. Manze erweckte die Partitur zum Leben, animierte die Radiophilharmonie zu einem so kompakten und packenden Zusammenspiel und zu einer Präzision, die immer noch erkennen lässt, wie gut Dirigent und Orchester im Lauf ihrer Zeit zusammengewachsen sind. Ein starker Auftakt ins Bruckner-Jahr in Hannover, begeisterter Applaus für einen ungemein intensiven Konzertabend.
Christian Schütte