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HAMBURG/ Schauspielhaus: DIE ÜBRIGGEBLIEBENEN nach Thomas Bernhard. Stream

10.02.2021 | Theater

Stream: „Die Übriggebliebenen“ nach Thomas Bernhard am 9. 2. 2021 im Deutschen Schauspielhaus/HAMBURG

Prekäre familiäre Konstellationen

In der subtilen Inszenierung von Karin Henkel (Bühne: Muriel Gerstner; Kostüme: Klaus Bruns) ist diese Aufführung eine interessante Hommage zum 90. Geburtstag von Thomas Bernhard, wo drei Texte aus seinen Stücken „Vor dem Ruhestand“, „Ritter, Dene, Voss“ und  „Auslöschung. Ein Zerfall“ wirkungsvoll miteinander verbunden werden. Zwei Schwestern bereiten hier ein obskures Festessen für ihren aus der Psychiatrie entlassenen Bruder vor. Alles ist karg und trist, kein schönes Haus. Die Kerzen verbreiten eine melancholische Aura. Im Schloss Wolfsegg ist alles gespenstisch: Amalia und Cäcilia warten auf ihren Bruder Franz, um die bei einem Autounfall verunglückten Eltern zu beerdigen. Franz Murau kehrt nach einem Aufenthalt in Rom als Alleinerbe zurück. Er möchte „Wolfsegg“ am liebsten auslöschen. Shakespeare, Strindberg und Schopenhauer lassen grüßen. Und die Mutter wird als die Übeltäterin ausgemacht: „Die Mutter ist die Schuldige, nicht der Vater.“ Als „Familienmörderin“ ist sie dem „Frauenhass“ rettungslos ausgeliefert. Die ganze Gesellschaft wird beschuldigt, Nazis zu dulden. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis diese wieder an der Macht seien. Karin Henkel beschwört hier immer wieder eine wirklich beklemmende und zombiehafte Welt zwischen offenen Särgen und schemenhaften Kinderchören (es singt die Hamburger Kinder- und Jugendkantorei St. Petri/St. Katharinen unter der Leitung von Lena Sonntag). Die Bilder scheinen sich suggestiv zu verdichten. Die surreale Welt von drei Familien prallt dabei frontal aufeinander. „Exzessiver Infantilismus“ macht sich breit, neurotische Strukturen ufern in beängstigender Weise aus. Eine politische Verschärfung bringen die beiden Stücke „Vor dem Ruhestand“ und „Auslöschung“. Bernhards monomanische Thematik um Untergang und Tod setzt sich in verstörender Weise fort, was bei Karin Henkels Inszenierung plastisch über die Rampe kommt. Die Dramaturgin Rita Thiele hat hier zusammen mit der Regisseurin Karin Henkel eine geschickt konstruierte Bühnenfassung produziert. Immer wieder erscheinen Hitler und Himmler als fratzenhafte Gespenster, wobei man (lange nach dem Zweiten Weltkrieg) heimlich Himmlers Geburtstag feiert. Hinter dem angeblich rechtschaffenen Gerichtspräsidenten Höller verbirgt sich ein unverbesserlicher Nazi: „Ich habe kein schlechtes Gewissen. Müssen andere ein schlechtes Gewissen haben. Ich habe mir nichts vorzuwerfen.“ Doch die Kinder begehren heftig dagegen auf, ereifern sich über die „katholisch-nationalsozialistische Sonne“ und empören sich darüber, dass der Erzbischof von Salzburg die „Totenrede“ für Massenmörder hält. Die Schwester Vera fühlt sich Höller verbunden, während Clara eine Opponentin ist: „Du bist hässlich!“ Der andere Sohn Ludwig meint: „Die ganze Welt ist ein völliger Zynismus.“ Im Krieg habe es kein Gefühl gegeben. Gleichzeitig lautet die bange Frage: „Wie lange hat Rudolf mit seinem kranken Herzen noch zu leben?“ Dramaturgisch treiben die einzelnen Szenen diese in sich selbst gefangenen Figuren ausweglos in die Enge. Zwischen Verwesung und Gestank erklingt fetzenhaft Beethovens „Eroica“. Bernhards „Alles ist sinnlos“-Haltung treibt hier grotesk ihrem Höhepunkt zu. Er genießt als Autor die Rolle des „Störenfrieds“ – und Karin Henkel will ihm diesen Nimbus nicht nehmen. „Was ist das für ein Staat, der den Massenmörder in Luxus leben lässt?!“ lautet die Anklage. Millionen tote Deutsche werden beklagt: „Die Amerikaner haben unsere Kultur zerstört!“ Man erfährt fassungslos, dass alles seinen Tiefpunkt erreicht habe: „Die Europäer haben alles falsch gemacht…“ Franz Murau regt sich darüber auf, dass seine Eltern über Jahre hinweg führende Nazigrößen in der Wolfseggschen „Kindervilla“ versteckt hätten. Der katholisch-nationalsozialistischen Erziehung der Eltern soll jetzt endgültig der Garaus gemacht werden. Trotz einiger szenischer Schwachstellen gelingt es Karin Henkel, das enorme psychische Auf und Ab dieser von den Dämonen der Vergangenheit gepeinigten Figuren drastisch herauszuarbeiten: „Charakterloser Staat! Schamloser Staat!“ 98 Prozent des Volkes seien Judenhasser. Die suggestiven Darsteller Lina Beckmann, Jean Chaize, Brigitte Cuvelier, Andre Jung, Jan-Peter Kampwirth, Angelika Richter, Tilman Strauß, Bettina Stucky und Gala Othero Winter schlüpfen hier virtuos in immer neue verzwickte Situationen hinein, die sich schließlich nicht mehr entwirren lassen. Eine der Schwestern berichtet lakonisch von ihrem „Strangulierungsversuch“: „Mein Geschenk zu Himmlers Geburtstag“. Die Inszenierung gewinnt dabei eine erstaunliche atmosphärische Dichte und szenische Geschlossenheit, auch wenn man sich zuweilen in Draculas Gruft wähnt.  Die erschreckende Präsenz des Textes wird bei dieser Aufführung für den Zuschauer in beklemmend-greifbare Nähe gerückt. Das ändert sich auch nicht, als alle am gedeckten Kaffeetisch sitzen. Die überzeugendste Szene kommt ganz am Schluss, als der Gerichtspräsident Rudolf Höller einen tödlichen Herzanfall erleidet: „Wir müssen ihm die SS-Uniform ausziehen.“ Und die schwer gestörte Tochter würgt zuletzt nur noch Krapfen hinunter. Fastnachtsstimmung will aber nicht aufkommen. Die Alpträume in einer entromantisierten Alpenlandschaft sind jetzt nicht mehr zu übertreffen. „Menschenfeindliche Züchtigungsmechanismen“, unter denen Bernhard zeitlebens gelitten hat, verdichten sich zu apokalyptischen Visionen. Die Metaphernsprache wird dabei durch surrealistische Effekte ergänzt. Wer ist nun eigentlich übrig geblieben? Die Texte von Thomas Bernhard sind plötzlich erschreckend aktuell.    

 

ALEXANDER WALTHER       

 

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