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Hamburg: „CARNEGIE HALL MEMORIES“ – swingendes reenactment-Konzert in der Laeisz-Halle, Großer Saal

21.04.2024 | Konzert/Liederabende

Hamburg: „CARNEGIE HALL MEMORIES“ – swingendes reenactment-Konzert in der Laeisz-Halle, Großer Saal, 20. 04.2024

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Die Hamburger Laeiszhalle, Innenraum, großer Saal, lange vor den Konzert. Foto: Petra und Helmut Huber

Die meistverkaufte Schallplatte/CD des Sektors Jazz ist nicht etwa „Bitches Brew“ von Miles Davis oder „Mercy, Mercy, Mercy! Live at ‚The Club‘“ von Julian „Cannonball“ Adderley mit Joe Zawinul, sondern der Mitschnitt eines Konzertes, das den Schritt des Jazz von der reinen Tanz- und Unterhaltungsmusik zu einer Kunstform markiert, derentwegen man eine Konzerthalle aufsucht: es ist dies der erste dedizierte Konzertauftritt einer Band, die den nach 1930 in Chicago und New York entstandenen „Swing“ mit großem Erfolg in ungeahnte künstlerische und kommerzielle Höhen katapultierte, nämlich der von Benny Goodman. Dieses Ereignis fand am 16. Jänner 1938 in New York statt, im bis heute prestigereichsten Konzertsaal der Stadt, 1889 vom Stahlmilliardär Andrew Carnegie in Auftrag gegeben.

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Foto: Petra und Helmut Huber

Goodman und sein Management hatten allerhand Schwellenangst und Vorbehalte, aber schließlich war der 2.800 Menschen fassende Saal an diesem kalten Jänner-Sonntagabend ausverkauft und das Konzert wurde auch künstlerisch zu einem sagenhaften Erfolg. Auf eher obskuren Wegen entstand glücklicherweise auch ein Mitschnitt – freilich kannte man damals in den USA noch keine Tonbänder fast beliebiger Länge, sondern es wurden in der Art des Schallplattenschnittes Acetatfolien und Metallplatten mit einer Laufzeit um die 5 Minuten zeitlich überlappend beschrieben. 1950 gab es die erste Veröffentlichung (Doppel-LP, noch mit durch Defekte an den Mastern bedingten Einschränkungen), und seit etwa 25 Jahren CDs des kompletten Konzertes, was damit seit rund einem Dreivierteljahrhundert am Markt ist!

Kindheit und Jugend in der DDR, noch dazu als Sohn eines prominenten Schriftstellers (dessen Verhältnis zur Staatsführung keineswegs reibungsfrei war) sind nicht gerade eine typische Voraussetzung für eine Karriere im Jazz. Trotzdem hat sich der 1965 geborene akademisch ausgebildete Pianist Andrej Hermlin doch mit seiner 1987 gegründeten vorerst kleineren band genau diesem verschrieben – und zwar genau dem ca. 1935 – 1945 aktuellen Stil des Swing. Denn sein Vater besaß einige einschlägige Schallplatten, die den kleinen Andrej schon im Vorschulalter faszinierten.

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Foto: Petra und Helmut Huber

Benny Goodman gehört samt seinem brillanten Orchester, in dem 1938 auch die Stars und künftigen bandleader Gene Krupa, Harry James oder Ziggy Elman zentrale Figuren waren, zu den Paten des „Swing Dance Orchestra“ – und das Carnegie-Hall-Konzert ist in dem Metier klar sowas wie ein heiliger Gral. Den zu (ver)suchen kann man sich nur leisten, wenn man musikalisch SEHR viel drauf hat. Andrej Hermlin war mit seinem Orchester gegen 2004 so weit. Heute, nach Zäsur durch Corona, wird dieses Programm wieder aufgenommen, mit mehr Hermlin denn je, denn mit dem Schlagzeuger David Hermlin und der Sängerin Rachel Hermlin ist die nächste Generation der Familie an zentralen Stellen aktiv.

Ein zufällig entstandener Treppenwitz ist es, daß das Konzert ausgerechnet am Geburtstag Adolf Hitlers stattfindet, dessen Regime ja dem Jazz und dessen wichtigsten Künstlern und fans feindselig bis mörderisch gegenüberstand. Aber gerade in Hamburg war damals übrigens eine Gegenbewegung von jazzbegeisterten Jugendlichen, genannt „Swings“, besonders stark. Und so liefert die dem Originalschauplatz ähnelnde Laeisz-Halle, die auch gut 2.000 Personen faßt, für das in Berlin beheimatete Orchester den passenden Rahmen in mehrerlei Hinsicht. Der Saal war auch weitestgehend ausverkauft, und das Wetter, zumindest für April, durchaus verdammt kalt (um die arme, vielstrapazierte Sau im Stall zu lassen).

Jazzkonzerte wiederholen kann man nun eigentlich – gar nicht. Allerding verließen sich die meisten improvisationsfähigen Orchester der Swing-Ära auf durchaus genau elaborierte Arrangements, in die dann die Solistenstellen eingebaut wurden. Also ist, vom ohnedies feststehenden Programm einmal abgesehen, die Struktur eines Abends durchaus vorhersehbar. Aber man soll ja nicht die Soli einfach nachspielen – wenn man denn nicht nur technisch hervorragende (die Literatur ist höchst anspruchsvoll!), sondern auch improvisationsfähige Leute im Orchester hat. Daß diese Soli dann auch stilistisch „in der Zeit“ bleiben, ist noch eine weitere Hürde, die nicht alle schaffen…

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Foto: Petra und Helmut Huber

Aber die Herren im Orchester  – 3 Trompeten, 2 Posaunen, 4 Saxophone aller Stimmlagen, je 1 Gitarre,  Kontrabaß, Klavier und Schlagzeug schaffen das alles: präzise im Rhythmus, treu den Arragements, mitreißend swingendes Idiom, und die Soli definitv „im Geiste von“, aber nie „abgepaust von“. Mitunter schaffen z. B. die Trompeter auch den fast unnachahmlichen Stil vom Harry James erklingen zu lassen: virtuos, dabei immer am Rande des Absturzes, aber letztendlich perfekt – wie seinerzeit Walter Röhrl seine Rallyeautos bewegt hat! Jeder einzelne im Orchester kommt als Solist dran, und bis auf gelegentliche Schwächen bei den Trompeten ist der Eindruck dabei auch makellos.

Besonders exzellent Lorenzo Baldasso an der Klarinette, der die technische Brillanz und den Ansatz Benny Goodmans exakt trifft, und dabei wunderbar passende, aber komplett eigenständige Soli perlen läßt. Gene Krupa war das pulsierende und vorwärtsdrängende Herz der Goodman-band, und genau in dessen Rolle ist David Hermlin mit seinen 24 Jahren schon paßgenau hineingewachsen: spielerisch bis humorvoll, aber mit exakt thythmischem Schlag und einem untrüglichen Gespür für den Akzent, der einen Solisten oder das ganze Orchester (und damit das Publikum im Saal) in der exakt richtigen Hundertstelsekunde weitertreibt oder einen harmonischen Haken schlagen läßt. Dabei hat er noch Zeit, dann und wann einen stick durch die Luft wirbeln und im Rhythmus exakt aufzufangen. Und das den ganzen incl. Pause gut 2 ½  stündigen Abend lang, vom wilden break in „Don‘t Be that Way“ zu Beginn bis zum unermüdlichen Schlagzeuggewitter in der offiziellen Schlußnummer „Sing, Sing, Sing“.

In den vier Stücken in Quartettformation kommt der Grazer Roland Neffe als Lionel Hamptons Wiedergänger mit vier Schlägeln zu atemberaubender Geltung, während bandleader Andrej Hermlin weiter am Klavier bleibt und damit von der Rolle des Jess Stacy in die von Teddy Wilson schlüpft – in jedem Fall die solide und swingende harmonische Basis der Ensembles, aber dazu ein beachtlicher Solist, der auch einmal (in der jam session über „Honeysuckle Rose“ vor der Pause) wie Count Basie klingen kann.

Zweimal tritt Rachel Hermlin (für Martha Tilton) ans epochegerechte Bändchenmikrophon – „Loch Lomond“ und „Bei mir bist du schoen“ läßt sie mit vollerer Stimme als das Original erklingen, in rhythmischem Gespür und Phrasierung perfekt eingebaut.

Auch wichtig: das Orchester spielt ohne Verstärkung, nicht einmal die Gitarre bekommt Unterstützung. Aber das reicht, um den Saal bis in den letzten Winkel satt zu füllen!

Natürlich gibt’s immer wieder Applaus für die Solisten, und am Schluß stehenden Applaus; die beiden Zugaben werden ebenfalls gemäß der Historie mit „If Dreams Come True“ und „Big John’s Special“ gegeben, als Schluß eines aufregenden und rundum gelungenen Abends.

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Schlussapplaus. Foto: Petra und Helmut Huber

Petra und Helmut Huber

 

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