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HAMBURG: Ballett Dona Nobis Pacem. Inspiriert von Johann Sebastian Bachs Messe in h-Moll. Choreographie, Licht, Bühnenbild, Kostüme: John Neumeier

16.12.2022 | Ballett/Performance

HAMBURG: Ballett Dona Nobis Pacem. Inspiriert von Johann Sebastian Bachs Messe in h-Moll. Choreographie, Licht, Bühnenbild, Kostüme: John Neumeier

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Dona Nobis Pacem-Solo-Alexander-Trusch. Copyright: Kira West

I.                Infos zum Stück

Ballett Dona Nobis Pacem

Inspiriert von Johann Sebastian Bachs Messe in h-Moll
Choreographie, Licht, Bühnenbild, Kostüme: John Neumeier
Musik: Vokalensemble Rastatt, Leitung Holger Speck

Besuch am 04. Dezember 2022.  Uraufführung

Ort: Staatsoper Hamburg  [http://www.hamburg-ballett.de]

Fotos: Kiran West

Weitere Aufführungen:

Mi 4.,Do 5. Januar, So 2. Juli 2023: Staatsoper Hamburg.

Fr.29., Sa.30 September, So. 1 Oktober: Festspielhaus Baden-Baden.

 

II.          Besprechung

 Sakrales Ballett in Vollendung – John Neumeiers Abschiedswerk in Hamburg

Was bringt einen 83 jährigen, weltweit anerkannten Ballett Choreographen, mit einem erfüllten wie reichhaltigen Oeuvre von 171 geschaffenen Tanzwerken dazu, sich als Grundlage für sein letztes Werk eine christliche Messe aus zu suchen ? Also die Vertonung eines Gottesdienstes, ohne erzählerische Momente, zur Grundlage seines letzten Balletts zu machen ? 

Es war vor allem der Austausch mit Günter Jena, in den 80er Jahren, so erzählt es John Neumeier auf der Premierenfeier, der ihn dazu anregte. Zusammen mit dem damaligen Kirchenmusikdirektor der Michaeliskirche in Hamburg hat er die Idee entwickelt, die Matthäus Passion von Bach zu tanzen. Und immer wieder erinnerte Günter Jena: Du musst auch noch die h-Moll Messe von Bach machen. Und fragte beständig: Wann ist es soweit, wann vertanzt Du diese bedeutendste aller Messen ?

Nun war es soweit. Knapp 40 Jahre später, in seiner 50. Spielzeit als Ballettdirektor, fühlte sich John Neumeier bereit die „größte Herausforderung meiner Karriere“ in die Tat um zu setzten. So wie bei Bach die h-Moll Messe soll auch dies sein letztes Werk sein und „die Stärke und Leistungsfähigkeit des Hamburger Ballets zum Ausdruck bringen. Und den Glauben, die Zweifel und die Zerrissenheit des tiefreligiösen Katholiken John Neumeier ausdrücken.

 

Titel und Ausgangspunkt des Ballets ist der Schlusschor der Messe: „Dona nobis pacem“. Gib uns Deinen Frieden. Auf diesen äußeren wie inneren Frieden arbeitet sich die Aufführung hin. Allerdings, der Weg dahin ist weit, und Zwist und  Zwietracht kommen immer wieder dazwischen.

So etwa gleich am Anfang, vor und dann mit dem „Kyrie“, sehen wir einen Soldaten auf der Flucht, sich auf die Bühne stürzend. Schützengraben und Stacheldrahtverhau sind im Hintergrund zu sehen. Die Entzweiung unter den Menschen wird im ersten Teil („Missa“) als Krieg gezeigt, mit Soldatenwitwen und Totentrauer, Gewehren, Schießen und Erschöpfung nach dem Kampf. Kindersoldaten erscheinen auf der Bühne. Das Kriegstreiben gerät dem Choreographen dann zuweilen sehr plakativ. Und dann wird auch noch in einer Videoeinspielung demonstrativ der aufgehende Atompilz von Hiroshima gezeigt. Was hat dies mit der Musik Bachs zu tun, die dieser Szene unterlegt ist. Also den beiden Arien Qui Sedes und Ouoniam Sanctus aus dem Gloria Teil der Messe. So mag man zu Recht fragen.

Hier zeigen sich die Schwierigkeiten, eine Barockmesse ohne durchgehende Erzählebene in tänzerische Formen zu bringen. Niemand hat dies bisher versucht.

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Ensemble. Copyright: Kiran West

Im zweiten Teil werden die Darbietungen des Hamburg Ballets ästhetischer und gefälliger, aber auch spiritueller und transzendenter. Und stehen so wieder mehr im Einklang mit der Musik Bachs Jedes Lied, jede Arie und jeder Chor wird zum Gebet. In wunderbar eingängiger Weise werden Gebetstänze im Reigen tanzender Witwen, tanzender Geistlicher, tanzender Engel und wartender Frauen aufgeführt. Hier schöpft Neumeier in Fülle aus dem Repertoire seines Ensembles, wie auch aus dem Repertoire seines Gesamtwerkes. Kostüme und Sprungformationen erinnern an Weihnachtsoratorium und Matthäus-Passion, das schönste Pas-de-Deux im Agnus Dei der Messe an das Magnificat. Bis in einzelne Schrittsequenzen wird jetzt die ureigene Handschrift des Meisterchoreographen aus vergangener Zeit sichtbar.

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ER. Copyright: Kiran West.

Das Ballett hat einen Protagonisten, Alex Martinez, der gleich am Anfang erscheint. Und damit doch ein eigenes narratives Element.  Als Mensch auf der Flucht, betritt er mit einem Koffer die Bühne. Der geht auf, und es fallen unzählige Fotos heraus, Erinnerungen an Schrecken des von Krieg und Gewalt. Als „ER“ benannt steht er für den verstörten und wieder Hoffenden, für den verzweifelten und wieder Glaubenden, für den nach Frieden Suchenden. Alex Martinez dreht und wendet sich über 2 Stunden lang tanzend durch das ganze Stück, körperlich virtuos, wirkt er mal raumfüllend und mal zusammengeschrumpft, eine großartige Leistung.

Sein weibliches Alter Ego, die „SIE“ (Ida Praetorius) tritt im zweiten Teil der Messe (benannt „Symbolum Nicenum“) in Erscheinung. Sie wird allerdings als Rolle von Neumeier nicht so entwickelt, dass Sie einen gleichgewichtigen Gegenpart bilden könnte. Auch sonst gibt es im Ballett bis auf den Protagonisten nur wenig herausragende Solopartien, es bleibt im Wesentlichen ein Ensemblewerk.  Als Einzeleinlagen ragen heraus: Anna Laudere, die Soldatenwitwe, die voller Inbrunst ihren Mann betrauert und beweint, im ersten Teil über mehrere Sätze hinweg.  Und im zweiten Teil das voller Hingabe getanzte Solo von Alexander Trush  der zur Bass-Arie „Et in Spiritum Sanctum“, einen Geistlichen tanzt.

John Neumeier hat für die Bach-Messe mit dem Ensemble Resonanz und dem Vocalensemble Rastatt unter der Leitung von Holger Speck eine formidable aufspielende Musik- und Gesangsformation gefunden hat. Die flankiert werden durch große Solisten, Marie Sophie Pollak (Sopran I), Katja Piewek (Sopran II), dem herausragenden Benno Schachtner als Alt, Julian Pregardien (Tenor) und Konstantin Ingenpass (Bass). 

Ansonsten übernimmt der Meister alles selbst, neben Choreographie, auch Bühnenbild, Licht und Kostüme. Außer dem Kriegsbunker am Anfang und einem 70er Jahre Kirchenbau bleibt die Bühne meist ein abstrakter Raum. So kann die Ballett Formation zum Bild selbst werden, auch eine Neumeier-Spezialität. Eindrücklich bringt dies Ensemble beim Chor-Satz“ Ossana in excelsis“ zum Ausdruck. Die Tänzer queren in joggend leichtfüßiger  Bewegung von rechts und von links die Bühne, immer wieder, hin und her, und  eine sich verwebende, feiernde Gesamtformation, den Lobpreis Gottes von Bach untermalend.

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Engelscharen. Foto: Kiran West

Im letzten Bild, zum titelgebenden Chorsatz, zum Abschied, strömen Heerscharen von Engeln auf die Bühne, das gesamte Ensemble erscheint weiß gekleidet. ER schreitet langsam durch die Engelschar und verschwindet im Irgendwo.  Das Ensemble kniet nieder, alle halten den Arm hoch, die Hand nach oben aufgeklappt. Ein Bild von Frieden und Glückseligkeit, vom Geben und Nehmen,  das nach dem verstummenden Chor noch einige Momente nachhallt. Der Vorhang fällt. Stehende Ovationen.

Autor: Thomas Böckenförde

 

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