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HALLE: VIKTORIA UND IHR HUSAR – Premiere wegen eines Corona-Falls abgebrochen

21.11.2021 | Operette/Musical

HALLE: VIKTORIA UND IHR HUSAR – Premiere wegen eines Corona-Falls abgebrochen
20.11. 2021 (Werner Häußner)

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Copyright: Federico Pedrotti/ Oper Halle

Soeben ist Paul Abrahams schönster langsamer Walzer „Reich mit zum Abschied noch einmal die Hände“ verklungen. Soeben hat Regisseur Patric Seibert jeden Anflug von Sentimentalität gebrochen und alte Operetten-Larmoyanz in einer unerhört brutalen, gleichzeitig sich selbst ironisierenden Finalszene weggefegt. Da tritt Halles neuer Opernintendant vor den Vorhang, den Regisseur der Operette „Viktoria und ihr Husar“ im Gefolge, um eine Ansage zu machen.

Ein weiterer Bruch zur Desillusionierung der Szene? Mitnichten: Die Mitteilung ist ernst und real. Wegen eines soeben bestätigten positiven Corona-Tests bei einem der Darsteller muss die Premiere abgebrochen werden. Walter Sutcliffe versucht die irritierten Zuschauer aufzumuntern: Es gebe ja noch so viele Vorstellungen, da könnten sie „Viktoria“ mit dem jetzt ausfallenden dritten Akt nachholen. Schwacher Trost für extra angereiste Abraham-Fans. Dann „Rausschmeißer“ des Orchesters: Zu „Mausi, süß warst Du heute Nacht“ paradieren die Darsteller für ihren Beifall. Eine irgendwie bizarr wirkende Situation.

Bei dem ambitionierten Regiekonzept Seiberts mit substanziellen Eingriffen in Handlung und Text muss jede Kritik ohne den Schlüssel des letzten Akts unvollständig bleiben. Zumal der Bruch zum Vorherigen offenbar fundamental gewesen wäre. Wie das versöhnliche Ungarn-Heimatbild, das Abraham und seine Textdichter entworfen hatten, das deutlich als (vermeintliche) Katastrophe gekennzeichnete Finales des zweiten Akts aufgelöst hätte, bleibt also vorerst verborgen. „Wiederauferstehung“ hätte es gegeben, verrät der Regisseur noch.

Seibert bedient sich der Mittel der Zuspitzung. Die Handlungsstränge aus dem Original von Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda bleiben in Grundzügen erhalten, werden aber transformiert und neu motiviert. Grundlage dafür ist die zeitliche Einordnung. Dass der Offizier Stefan Koltay in einem russischen Gefangenenlager einsitzt, bleibt. Nur liegt es jetzt im Sibirien des Jahres 1949 und nicht mehr 1918, Koltay ist ein Wehrmachts-Oberstleutnant und sein Bursche, Obergefreiter Janczi, hat sich auf die Seite der Kommunisten geschlagen und ist jetzt sein „Führungsoffizier“. Der Plan: Die beiden Ungarn werden in die amerikanische Botschaft in Japan eingeschleust und sollen für den KGB spionieren. Die Alternative wäre sofortiges Erschießen, verkündet Barbara Dussler als surreal überdrehter, geschlechtsindifferenter russischer Offizier, der beim Vortrag von Bertolt Brechts „Lob des Kommunismus“ unter orgasmusähnlichen Zuständen zuckt und stöhnt.

Diese auf Messers Schneide balancierende Erzählweise zwischen distanzierenden Facetten, ironischer Überdrehung und linearen, von antiquierter Operetten-Erhabenheit erfrischend befreiten Spielszenen zieht der derzeitige Musikdramaturg am Staatstheater Cottbus und frühere Mitarbeiter von Frank Castorf am Bayreuther „Ring“ konsequent durch die beiden Akte. Schon im Vorspiel ist es nicht mehr die sentimentale Geige, die den Kopf der beiden Gefangenen rettet, sondern das im Original-Libretto periphere Spionage-Motiv. Graf Ferry wird in der amerikanischen Botschaft nicht nur ein „Japanmädel“ namens O Lia San heiraten, sondern gleich deren vier. Und zwar nicht wegen des exotischen „Liebestraums“, sondern weil die jungen Japanerinnen einen Komplott schmieden, um mittels Verehelichung in die USA ausreisen zu können. Das Geschrei ist hysterisch, als sie erfahren, es solle nach Ungarn gehen …

Entscheidend umgedeutet ist das Verhältnis von Viktoria und dem Offizier: Koltay ist nicht mehr der jahrelang verschollene und schließlich für tot erklärte Geliebte, der plötzlich wieder auftaucht. Sondern das Verhältnis zwischen den beiden endet 1939, als der Wehrmachtsoffizier sich außerstande sieht, die Jüdin Viktoria zu heiraten, und auch nicht bereit ist, mit ihr irgendwohin zu entkommen: Soldatenehre! Erklärt wird diese grundlegend andere, viel brisantere und von aus der Sphäre der schicksalhaften Liebesschmonzette befreite Motivation in einem eingeblendeten Schwarz-Weiß-Film.

Die Bühne von Dorota Karolczak und die Kostüme von Jon Bausor erinnern in ihrer Detailverliebtheit und in den vielen beziehungsreichen Chiffren bis hin zu den an die Wände geklebten Filmplakaten an die Bayreuther Bühne Castorfs. Eine Ruine dreht sich und öffnet verschiedene Schauplätze für Feste, intime Szenen, außen und innen. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist der Platz für groß angelegte Choreographien. Sofia Pintzou kann aus Abrahams musikalischer Architektur keine ausladende Show entwickeln, sondern muss sich auf öfter das Banale streifende Bewegungsgestaltung beschränken. So bleiben die „Mama aus Yokohama“ oder die „Do do do“-Jazzband unentfaltet – der Preis für die radikale Dramatisierung der Operette.

Aber auch musikalisch müssen die zündenden Schlager Abrahams ordentlich Federn lassen. Das liegt nicht an der Musik selbst, die von der Staatskapelle Halle mit reichem Instrumentarium – Saxophone, Klarinetten in jeder Form, Banjo, Drumset und sogar Sousaphon, nicht jedoch das schimmernde Vibraphon, das man auf alten Schellackplatten gerne hört – verlebendigt wird. Sondern an der leidigen Masche, diese letzten Blüten der modernen Operettenkultur vor dem Abbruch des Genres in die verordnete braune Biederkeit nach 1933 unbekümmert zu verstärken. Die Folge sind nicht nur elektronisch aufgepeppte Stimmen, sondern auch ein Orchester von undifferenzierter Lautstärke und schwappendem Mischklang, mangelnder klanglicher Ausdifferenzierung und fehlendem Raffinement in der Balance der Instrumente. Schuld daran sind weder die Musiker noch der spritzig auf Tempo drängende Dirigent Peter Christian Feigel von der Staatsoperette Dresden. Bei allem Pep und allem Schmachten: Der Sound befriedigt nicht.

Dabei wäre den Sängern in Halle – wie ihren Kolleginnen und Kollegen bei der deutschen Erstaufführung 1930 in Leipzig und den triumphalen Erfolgsweg-Stationen Wien und Berlin – zuzutrauen, dem Orchester Paroli bieten zu können: Franziska Krötenheerdt, eine bezaubernde Viktoria mit klarem, fest fokussiertem Sopran, Chulhyun Kim als Koltay mit einem pastoseren, nicht ganz die Richard-Tauber-Süße erreichenden Tenor, Vanessa Waldhart mit ansprechend präsenter Soubretten-Leichtigkeit als O Lia San. Auch Robert Sellier als alerter Ferry, Yulia Sokolik als samtige Riquette, Musa Nkuna als sicher abgefederter Tenorbuffo Janczi und Gerd Vogel als würdig patriarchal getönter Cunlight hätten da mithalten können.

Bleibt die Frage, wie es zu diesem ärgerlichen Abbruch der Premiere kommen musste. Sind in Halle nicht sämtliche Beteiligte an einer Aufführung vorher negativ getestet? Doch, bekräftigt Heike Neumann, Leiterin der Kommunikation der Bühnen Halle. Alle Darsteller sollen und können sich täglich im Haus testen lassen. Sämtliche Tests vor der Premiere waren negativ. Aber: Bei einem der Darsteller hatte die Corona-Warn-App die Nähe zu einem positiv Getesteten angezeigt. Und der daraufhin durchgeführte freiwillige PCR-Test brachte ein positives Ergebnis, das ausgerechnet im Lauf der Vorstellung eingetroffen war. Dass die Theaterleitung so konsequent reagiert hat, verdient großen Respekt und zeugt von Verantwortungsbewusstsein. Allerdings darf auch gefragt werden, ob es nicht ausgereicht hätte, die betroffene Person in Quarantäne zu schicken und so die bereits während der zweieinhalb Stunden der Vorstellung bestehende potentielle Ansteckungsgefahr zu beenden?

Werner Häußner

 

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