HALLE/SAALE: HÄNDEL FESTSPIELE vom 28.5. – 2.6.2024
Ganze drei Händel-Festspiele gibt es in Deutschland: in Göttingen, Karlsruhe und Halle an der Saale. Wobei letzteres eindeutig das Bedeutendste ist, und das nicht nur, weil Georg Friedrich dort geboren wurde und die ersten 18 Jahre seines Lebens hier verbracht hat. Und auch heuer wieder bescherten einem die Festpiele unerhörte und unvergessliche Erlebnisse.
Den absoluten Höhepunkt stellte für ihren Rezensenten dabei die Neuproduktion des „Amadigi di Gaula“ durch die Oper Halle dar. „Amadigi“ war die fünfte Oper, die Händel in London zur Aufführung brachte, und allgemein wird sie nicht zu seinen allerbesten gezählt. Dieses Urteil muss man nunmehr revidieren, denn Amadigi ist ein großartiges Werk – vor allem wenn es so wie hier ambitioniert und perfekt dargeboten wird.
Die Story kennt man aus vielen anderen Opern: ein Ritter wird „gegen seinen Willen“ von einer an ihm erotisch interessierten Magierin (sonst heisst sie Alcina oder Armida, hier Melissa) in ihrer Zauberwelt festgehalten. Der entscheidende Unterschied diesmal ist, dass der „arme Ritter“ in den anderen Fassungen durch äußere Einwirkung (als Mann verkleidete Verlobte, Co-Ritter oder seinem Kreuzzugkommandanten etc.) befreit wird. In Amadigi ist es auf originelle Weise – ich kenne kein anderes Libretto, in dem eine solche Deus-ex-Machina Variante vorkommt – der Geist eines Toten aus der Unterwelt, der plötzlich erscheint und der Sexy Hexy verkündet, dass die Höheren Mächte die Geduld mit ihr und ihren Untaten verloren hätten und ihr somit mit sofortiger Wirkung ihre Zauberkräfte entzögen…
Streit im Rechenzentrum. Copyright: Festspiele Halle/Saale
Die in New York aufgewachsene und ausgebildete Regisseurin Louisa Proske (den Namen wird man sich merken müssen) versetzt Melissas Zauberinsel in ein riesiges Rechenzentrum, wo es die Megacomputer sind, die auf ihren Wink hin täuschend echte positive wie negative virtuelle Welten „hervorzaubern“. Am Ende verschwindet die ent-zauberte Melissa in einem riesigen Kabelsalat des Hauptcomputers.
Das ist nicht nur exakt durchdacht, es ist auch – rarester aller raren Fälle bei Regiekonzepten – vom Anfang bis zum Ende exakt umgesetzt.
Ein wichtiges Atout der Attraktivität dieser Inszenierung sind dabei die Bühne und die Kostüme von Kaspar Glaser. Vor allem letztere sind in ihrer raffinierten Mischung aus historischer Informiertheit und überbordender Phantasie ein in allen Nervenzellen prickelnder Hirn-und Augenschmaus.
Was nicht heisst, dass die Ohren an diesem Abend zu kurz kämen. Ganz im Gegenteil: unter der aufmerksamen Leitung des katalanischen Dirigenten Dani Espasa erleben wir ein absolutes Champions-League-Premium Ensemble: Amadigi ist der aufstrebende polnische Counter Rafal Tomkiewicz (der nächste Saison auch im Theater an der Wien zu hören sein wird), die samtig timbrierte Yulia Sokolik sein Freund und Gegenspieler Dardono, die jugendliche Serafina Starke seine unschuldige, den Rachegelüsten der bösen Hexe hilflos ausgelieferte Verlobte Oriana – und die schauspielerisch wie sängerisch über die Massen wunderbare (leider Gottes mit einem hässlichen Familiennamen geschlagene) Franziska Krötenheerdt als über allem thronende und die meiste Zeit auch alle und alles beherrschende Magierin Melissa.
Alles in allem eine in allen Punkten mehr als gelungene Auffürung,wie man sie sich nur wünschen kann. Sie steht – wie es der Brauch ist – nächstes Jahr erneut am Programm der Händel-Festspiele. Ich kann es kaum erwarten, sie noch einmal und vielleicht auch ein drittes Mal wieder anzuschauen.
Auf Platz 2 meiner persönlichen Festspiel-Charts liegt heuer die Wiederaufnahme der letztjährigen Festspielproduktion von Händels einziger „lustiger“ Oper „Serse“. Zwar wollte ich am Anfang, als sich der Vorhang hob und der Titelheld statt des berühmten Baums zum “Ombra mai fu“ seinen hässlichen Privatflieger ansang, wutschnaubend und türenschlagend das Theater sofort wieder verlassen…Serse ist hier nämlich ein präpotenter und gewaltandrohender nahöstlicher Ölpotentat, der mit seiner Entourage im Privatjet um die Welt düst, Fußballmannschaften aufkauft, Pipelines eröffnet und zwischendurch mit seinem Bruder um die fesche Stewardess streitet.
Der Öligarch mit seinem Privatjet.
Das zu Beginn äußerst plump wirkende Regiekonzept geht sich aber dann doch ganz gut aus…vor allem dank Louisa Proskes (ja, die schon wieder!) subtiler und exzellenter Personenregie. Besonders nett: der „Titanic-Moment“ mit dem aus dem Cockpit heraushängenden Liebespaar.
Musikalisch war auch hier wieder alles „Erste Sahne“. Unter der zupackenden Leitung von Attilio Cremonesi sangen die uns schon bekannte Franziska Krötenheerdt (diesmal als Gute und nicht als Böse), Yulia Sokolik, Vanessa Waldhart, Leandro Marziotte und als Gast die bewährte Anna Bonitatibus in der Titelrolle.
Einzige Downside dieser durchaus vergnüglichen Produktion: dass Frau Proske diesmal nicht ihr genialer Bühnenbildner von Amadagi zur Verfügung stand. Denn in diese verzwergte, aber gemästete Pappendeckel-Tupolew hätte nicht einmal der ärmste aller Ölmagnaten einen Fuß gesetzt…
Und jetzt kommen wir zum Abschluss zur absolut unerwartetsten Überraschung dieses Festivals.
Es ist heute total unvorstellbar, aber es gab ja vor der Grossen Händelrenaissance eine Zeit – die älteren unter uns werden sich noch daran erinnern – in der man vom Grossen Meister nur die Feuerwerks- und Wasssermusik und den Messias spielte. Und er daher als plumper Knecht des Königs und plakativer Trompeter Gottes galt. George Bernard Shaw schrieb einmal: Wenn man den Messiah retten wolle, dürfe man ihn 100 Jahre lang nicht spielen. Ich persönlich habe mich ein ganz klein wenig daran gehalten, und seit ich Händels Ooern kenne, keine Aufführung mehr seines berühmten Oratoriums besucht.
The Messiah im Original
Wie groß war also mein Erstaunen, als ich, einer plötzlichen Schwäche nachgebend („Wenn ich schon da bin“), die wunderschöne Marktkirche betrat. Da war nur ein winziges quasi Kammermusik- Ensemble zugegen – das Wroclaw Baroque Orchestra unter Alexander Schneider.
Nur Violinen, Viola,Violoncello, Basso continuo, zwei Trompeten, eine Pauke.Sonst keine Instrumente. Und schon gar keine 4000 Chorsänger….
Die Dubliner Urfassung des Messiah ist ein Juwel. Noch nicht denaturiert vom viktorianischen Gigantismus zeigt er hier sein wahres Gesicht, seine wahre Natur: Händels Messiah ist eigentlich ein zärtliches, inniges, melancholisches, intimes Werk. Eine Offenbarung !
Lieber George Frederick, ich bitte Sie für meine Ignoranz um Entschuldigung. Tätliche Reue: nächstes Jahr, wenn die Dubliner Fassung (von einem anderen Ensemble) hier wieder auf dem Programm steht, werde ich auch wieder dabei sein…
Robert Quitta, Halle/Saale