HALLE: L’AFRICAINE – Vierteiliges Opernprojekt nach der Grand Opéra von Giacomo MEYERBEER – Premiere von Teil III
29.3.2019 (Werner Häußner)
Vielleicht liegt die Wahrheit nicht in den inhaltsschweren Proklamationen, nicht in der ausgefeilten Dekonstruktion. Sondern in ein paar Sätzen, die eher am Rand wahrgenommen werden. Etwa, wenn ein angeschickerter Hase sagt, das Projekt sei leichter gesagt als getan, „denn wir bekommen es mit Kräften zu tun, die wir nicht kontrollieren können“. Oder einer der afrikanischen Performer bemerkt, wenn der Geist „entkolonialisiert“ werden soll, sei die Waffe nicht Logik, sondern Wunder. Haben wir es mit kolonialen Dämonen zu tun? Müssen wir, wie es auf einem Detail der Bühne zu lesen ist, mit Dante „alle Hoffnung fahren“ lassen?
An der Oper in Halle, deren Intendant vor wenigen Wochen nicht verlängert wurde, ist derzeit ein umfangreiches Projekt am Laufen, das sich noch bis in die Spielzeit 2020/21 erstrecken wird: „I like Africa and Africa likes me – I like Europe and Europe likes me“. Vier Mal kommt Giacomo Meyerbeers „L’Africaine“ auf die Raumbühne Sebastian Hannaks, vier Mal verändert sich die Gestalt der Aufführung: Meyerbeers „Grand Opéra“ wird dekonstruiert nach allen Regeln der zeitgenössischen Theaterkunst, wird „übermalt“. Im vierten Teil ab 21. Juni wird Meyerbeers Musik verbunden mit Neukompositionen des Südafrikaners Richard van Schoor und wandert schließlich nach Lübeck. Dort entsteht gleichzeitig eine Filmoper mit dem Titel „L’Européenne“ nach einem Drehbuch des Regisseurs und Performers Lionel Poutaire Somé, der in Halle zum Produktionsteam gehört und in Burkina Faso mit Christoph Schlingensief gearbeitet hat. Und diese Umkehrung der Perspektive – Afrika blickt auf Europa mit dem Medium Oper – kommt im Gegenzug 2020/21 nach Halle.
Das ehrgeizige, vom Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes geförderte Projekt liegt genau in der Linie des noch bis 2021 verantwortlichen Intendanten Florian Lutz, auszuprobieren, was mit der Kunstgattung Oper unter dem Zeichen der Zeitgenossenschaft alles möglich ist, wie die Grenzen des Genres zu erweitern sind. Für den kreativen Zugriff auf Meyerbeers Werk arbeitet die Oper Halle mit einem afrikanisch-deutschen Team: dem Video-Designer Thomas Goerge und dem Bühnen- und Kostümbildner Daniel Angermayr (beide waren in Schlingensiefs „Parsifal“ in Bayreuth mit dabei), dem Filmemacher und Hip-Hoper Lionel Puotaire Somé, dem Sound-Designer Abdoul Kader Traoré, dem Projektkoordinator Michael von zur Mühlen und dem Dramaturgen Philipp Amelungsen. Und weil das Unternehmen halt auch mit Oper zu tun hat, mit den Dirigenten Michael Wendeberg und Peter Schedding.
Die Oper selbst wird aus der zweidimensionalen Perspektive von Guckkastenbühne und Zuschauerraum gelöst, ist nicht länger Illusions- und Überwältigungstheater, sondern Objekt einer neuen Perspektive, für die eine Gruppe afrikanischer Performer steht, die sich in den bisher gezeigten drei Stationen immer entschiedener in die Abläufe einmischen. Afrika, so ließe sich pointieren, blickt auf eine Vorstellung von „Afrika“, wie sie sich in der Exotismus-Perspektive der europäischen Kultur des 19. Jahrhunderts ausgebildet hat – und wie sie bis heute, wenn auch vielfältig transformiert, weiterwirkt: Die medialen Bilder von heute sind Hunger, Krieg, Entwicklungshilfe, oder Giraffen, Löwen und Elefanten.
Was in einer von einem – oft nicht bewussten – Alltagsrassismus geprägten Erinnerung versunken ist, sind schockierende Tatsachen wie die Ermordung von bis zu 80.000 Herero und Nama durch die deutschen Schutztruppen des Generalleutnants Lothar von Trotha in Deutsch-Südwestafrika, dem ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts, der auch als „Rassenkampf“ verstanden wurde. Oder die Konservierung und teilweise Ausstellung von Skelett, Gehirn und Geschlechtsteilen der „Vénus hottentote“ Sarah Baartman in Paris. Beides spielt in den Aufführungen in Halle eine Rolle, wenn etwa Meyerbeer und Bartmann als Puppen wie auf erhöhten Schiedsrichter-Leitertürmen sitzen und über das „Drama des Kolonialismus“ räsonnieren, das weder Afrika noch Europa wirklich aufgearbeitet haben.
Spannend wird der Vorgang der Dekonstruktion von Meyerbeers Oper, wenn sie zunächst in einer kitschig-historistischen Spielversion vor den Augen der stummen afrikanischen Beobachter abläuft, in den Teilen zwei und drei dann aber immer bruchstückhafter erscheint – als performative Wiederholung bestimmter Sequenzen in Sinne von Erinnerungen, aber auch als Metapher: Die Abschiedsarie der Inès etwa, von Liudmilla Lokaichuk anrührend gesungen, verbindet sich dann nicht nur vordergründig mit Videos von Bootsflüchtlingen, die wohl alles andere als eine „beau rivage“ verlassen, sondern wird auch zur Chiffre für das Verlassen alter, vertraut gewordener Kopfbilder, wenn der „Geist entkolonialisiert“ werden soll.
Spannend auch, dass die afrikanische Perspektive diejenige eines Rituals ist – eine Form, die Europäer heute weithin nur noch als säkularisierte psychologische Methode und nicht mehr als eine zutiefst religiös-transzendental konnotierte Weise der Weltdeutung und –auseinandersetzung wahrnehmen. Dass etwa der Bischof (Michael Zehe) in der Ratsversammlung im ersten Akt von Meyerbeers Oper eine Schamanenmaske trägt und erst vor dem Eintreten von Vasco da Gama ein rotes Birett aufsetzt, ist nur ein Detail. Im Kontext der Aufführungen behauptet es, dass sich religiöse Macht hier wie da manifestiert; verdeutlicht aber auch szenisch, was die Titel der vier Teile ausdrücken: Der „Auseinandersetzung mit den Ahnen“ (Fotouona Djami Yélé) folgt die „Versöhnung“ (Boo A San Pkaminé), die „Reinigung“ (Piir A Sièn) und die „Verwandlung“ (Nisalb Liefo). Vorbild ist ein Ritual des westafrikanischen Volkes der Dagara, aber man könnte problemlos auch christliche Buß- und Reinigungsriten heranziehen. Das ist eine problematische, aber funktionierende Identifizierung.
Im zweiten Teil gehen die afrikanischen Darsteller genauer darauf ein, wie sie „koloniale Dämonen“ vertreiben und „den Auftrag der Ahnen erfüllen“. Die untrennbare Verbindung von Kunst und Ritual wird benannt. Der Kunst – für die es in der westafrikanischen Sprache der Performer kein Wort gebe – komme der Begriff des „Heiligen“ am nächsten, heißt es da. Kunst als etwas, das aus einer anderen Welt komme, das ein Tor zu einer anderen Welt sei: Es gehört wohl auch zur Entkolonialisierung des Geistes, die spirituellen und transzendentalen Bezüge afrikanischer Kulturen ernst zu nehmen – eine fordernde Aufgabe zumal für Europäer, die sich aus ihren traditionellen christlichen Bezügen gelöst und Religion längst rationalistisch dekonstruiert haben, als Motor für gesellschaftliche Gewalt wahrnehmen oder in Form sinnentleerter säkularer Rituale nur noch rudimentär in ihren Alltag integrieren.
Unter dieser Voraussetzung fügt sich ein großer Bogen aus den disparaten Splittern – den historistischen Kostümen des Grand-Opéra-Kitsches, den performativen Einschüben und Überlagerungen, der multimedialen Kommentierung, dem zunehmenden Zerfleddern der Opern-Struktur – und damit der Musik Meyerbeers – in Momente des Zitats, der Erinnerung, auch des grotesken Kontrastes. Nicht jeder Teil dieser so entschlossen wie prekär zusammengefügten Sammlung theatraler Mittel geht auf: Nervig wird’s, wenn die Vorgänge zu eindeutig als politische Statements in dürren Worten firmieren. Oder wenn ein Zuschauerquiz im dritten Teil zwar die Kenntnislücken von Menschen auf den Sitzstufen der Raumbühne entlarvt, aber eher als abgedroschenes Verfahren wirkt, um die Zuschauer zu beteiligen, die den dritten Teil doch wieder als Gegenüber einer Bühne mit dem Orchestergraben als Trennlinie erleben. Und für die Schutzanzüge, mit denen zu Beginn des dritten Teils eine Truppe aus der Zukunft die Oper als „weißeste aller Kunstformen“ betritt, hat wohl jemand auf Rainer Sellmaiers Ausstattung für die denkwürdige Frankfurter Inszenierung Tobias Kratzers geschaut.
Spannend wird es also wohl noch einmal, wenn sich im vierten Teil und der „Européenne“ ein neuer ästhetischer, diskursiver und theatraler Horizont auftut, der – so ist zu hoffen – nicht in vordergründigen Debatten um Raubkunst oder N-Wörter steckenbleibt. Die „neuen Erzählungen der gemeinsamen afrikanisch-europäischen Vergangenheit“ brauchen die Vertiefung. Sie brauchen den „Dialog als Chance“, der im dritten Teil dieser Tetralogie beschworen wurde, nicht die Haltung, die zu Beginn im Bild treffend festgehalten wird: Da steht auf der leeren Bühne eine Kiste mit der Aufschrift „charité“. Den wohl schönsten Hinweis gab einer der afrikanischen Performer (Rosina Kaleab, Karmela Shako, Serge Fouha) mit dem eher nebenher gesprochenen Satz: „Sie kennen unsere Geschichten nicht.“ Wer dabei zuhört, mag schon auf dem Weg zur „Verwandlung“ sein.
Wer also nach Halle kommen will, um Giacomo Meyerbeers „L’Africaine“ zu erleben, bringt falsche Erwartungen mit und war in Würzburg 2011 (Gregor Horres/Enrico Calesso), Chemnitz 2013 mit Frank Beermann am Pult oder 2015 in Vera Nemirovas Inszenierung 2015 in Berlin besser bedient. Denn für Meyerbeers Musik mit ihren Perspektivenwechseln und ihren sorgfältig konstruierten Tableaus gab es in Halle keine Sternstunde. Orchester, Chor und Solisten hatten von Abend zu Abend immer stärker fragmentierte Ausschnitte vorzutragen. Damit war es den Dirigenten von vornherein nicht möglich, die Musik großräumig zu konzipieren. Doch auch das, was blieb, war nicht unbedingt ein Ruhmesblatt für die Staatskapelle: Grobe Bläser, holprige Einsätze, lustloser Streicherklang dominierten den Eindruck. Der von Markus Fischer einstudierte Chor umschiffte nach Kräften die Klippen, die seine Verteilung im Raum und der schwierige Kontakt zum Dirigenten aufrichten.
Die Gesangssolisten bemühten sich, den technischen und stilistischen Anforderungen gerecht zu werden – eine musikalische Durchdringung im Sinne einer integralen Aufführung war weder möglich noch beabsichtigt. Romelia Lichtenstein zeigte als Sélica wieder einmal, wie souverän sie sich auf solche Herausforderungen einlassen kann. Im dritten Teil bewies Karen Leiber – die Würzburger Sélica des Jahres 2011 –, wie sie die Partie verinnerlicht und gestalterisch durchdrungen hat. Gerd Vogel war ein stimmstarker Nélusko, Mathias Koziorowski ein Vasco da Gama mit prächtigem Material, das sich trotz der Zugnummer „Ô Paradis“ nicht recht entfalten wollte.
Aber, noch einmal: In Halle geht es um die Erweiterung des Musiktheaters in Richtung neuer Spielformen, um die Oper als Material, um Entdeckungslust und neue Kooperationen und um das Theater als multiperformatives Medium. Also um politischen und ästhetischen Diskussionsstoff. Wer sich daran beteiligen möchte, wird vielleicht nicht von allen eingesetzten Mitteln und Konzepten, aber von der Intention an sich durchaus angeregt nach Hause gehen.
Werner Häußner