Halle an der Saale:
DER VAMPYR
Bruchstücke der Oper Heinrich Marschners
am 5. Juli 2014
Es beginnt wie ein „Tanz der Vampire“: Ein schräges, schrilles Volk arbeitet sich unter einer Plane hervor und beginnt zu singen: von Hexen und Geistern, die sich – husch, husch – in Spalten und Klüften der Erde verbergen, bis der „Meister“ erscheint. Der ist ein teuflischer Conferencier in Blutsfarben, von kräftigem Arterienrot bis venösem Violett. Er gewährt einem Blutsauger noch ein Jahr auf Erden, so dieser bis „künft’ge Mitternacht“ drei Opfer gebissen und sich damit in die vampiröse Gefolgschaft eingereiht hat. Drei Bräute, zart und rein, müssen es sein. Und Lord Ruthven, der Vampir, macht sich an sein blutiges Geschäft, voll Lust an schwellenden Busen und quellendem Lebenssaft.
Heinrich Marschners „Der Vampyr“, 1828 auf den Wogen des Zeitgeistes in Leipzig mit rasant um sich greifendem Erfolg uraufgeführt, ist heute eine Rarität. Schon im 19. Jahrhundert fand man die blutige Schauergeschichte abgeschmackt und widerlich; der „Vampyr“ überlebte gleichwohl trotz des musikalischen Fortschritts, den Wagner – mit Marschner als großem Vorbild – mit seinen „Feen“ und seinem „Fliegenden Holländer“ weitertrieb. Hans Pfitzner versuchte, inspiriert von der Idee der deutschen nationalen Oper, für die auch Marschner zu Lebzeiten geworben hatte, das Werk durch eine Bearbeitung zu retten.
Heute stehen die Chancen nicht schlecht: Nicht nur „Twilight“ , sondern etwa auch Werner Herzogs „Nosferatu“ befassen sich mit dem Mythos des Vampirs, den der Arzt John Polidori in einem verregneten Schweizer Sommer in Gesellschaft Lord Byrons in eine wegweisende Novelle fasste. Marschners „Vampyr“ setzt die Fabel differenziert um: mit dem Motiv des „Schwurs“ als Chiffre für existenziellen Selbstverrat, mit dem Kampf von Gut und Böse in einem Menschen, der ein Geworfener ist, aber auch ein Akteur. Mit der Frage nach der Freiheit des Willens, Böses zu tun, und mit der Ambivalenz von Freiheit und Zwang auch unter den Vorzeichen sadistischer und masochistischer Lust.
Die psychologische Linie, die auf Sexualität hinläuft, und eine transzendentale Schiene, die den „Vampyr“ als eine Metapher des Bösen erschließt, verbinden sich in Wilhelm August Wohlbrücks schlagkräftigem Kolportage-Libretto und haben den biedermeierlichen Marschner zu einer seiner besten Opern inspiriert. Es wäre an der Zeit, die Trias der Marschner’schen Meisterwerke – mit „Hans Heiling“ und „Der Templer und die Jüdin“ – in sorgfältigen Inszenierungen wiederzubeleben. Aber, wie so oft: Es fehlen brauchbares Aufführungsmaterial und der Wille, die Rezeptionsgeschichte hinter sich zu lassen. Immerhin hört man von Planungen des Theaters an der Wien, Marschners „Hans Heiling“ auf die Bühne zu bringen.
In Halle an der Saale, im Innenhof der als Kunstmuseum überregional bekannten Moritzburg, war an solche Reflexionen nicht zu denken. Jörg W. Gronius hat eine „Spielfassung“ von 80 Minuten erstellt, in der selbst Höhepunkte der Musik wie Ruthvens erste Arie „Ha, welche Lust“ brutal beschnitten wurden. Regisseur Wolf Widder, Operndirektor des Pforzheimer Theaters, näherte sich dem Stoff mit wohlfeiler Ironie, bastelte eine bunte Show, die nur eines im Sinne hat: Rasch konsumierbare Sommerabend-Unterhaltung, angepasst an ein Publikum, dem unterstellt wird, nicht (mehr) die Geduld mitzubringen, sich eine knapp dreistündige Geschichte erzählen zu lassen. So blieben von Marschners Partitur nur Rudimente, gekittet von den mal mehr, mal weniger gelingenden Texten des in Halle beliebten Schauspielers Tom Wolter.
Gut, ein bisschen gruslig sollte es sein: Katja Lebelt baut ein Podium, eine schwarzglänzende schräge Fläche mit einer dunklen Öffnung, und nutzt geschickt die Architektur des Ostflügels. Hübsche, ein wenig schräge Biedermeier-Kostüme greifen die Entstehungszeit auf; zitiert wird auch Murnaus „Nosferatu“ und Tim Burtons „Edward mit den Scherenhänden“. Im stimmungsvollen Licht von Peter Jäschke wirken die satt geschminkten Gesichter (Maske: Mario Ansinn) manchmal wie unheimliche Erscheinungen. Wenn sich dann der riesige Schatten des Vampirs an der Wand zeigt, macht dieses Murnau-Zitat auch klar, welches Potenzial im Schauplatz steckt, hätte man sich auf Marschners Oper wirklich eingelassen.
Die Auftritte von Gerd Vogel – mit klangvollem Bariton – als Vampyr entsprechen den in zahllosen Filmen erprobten Mustern; die anderen Figuren des Stücks haben in ihren rudimentären Szenen kaum Chancen, sich freizuspielen. Im Falle von Anke Berndt als Malwina, der hartnäckigen Gegenspielerin des blutgierigen Lords, ist es nicht nur um den Charakter, sondern auch um die vielgestaltige Auftrittsarie schade; sie singt deren Reste mit präsenter, wenn auch angerautem und in der Höhe nicht anstrengungsfreiem Sopran.
Fast ungeschoren vom Rotstift bleibt Emmys Ballade vom „bleichen Mann“, ein Meisterstück in Atmosphäre, Melodieführung und orchestraler Charakterisierung. Elke Kottmair singt mit Sinn für die Gratwanderung zwischen der Lust daran, ihre Zuhörer zu erschrecken, und dem eigenen Schaudern vor der faszinierenden Gestalt des düsteren Aristokraten. Die dritte der Vampyrbräute, Janthe (Christin Kundolf), ist so gut wie komplett gestrichen.
Ralph Ertel als Edgar Aubry bemüht sich nach Kräften, dem jungen Mann – eingespannt in die Pole einer nicht standesgemäßen Liebe und des Wissens um den mörderischen Plan des Untoten – darstellerisch und sängerisch Kontur zu geben; stimmlich gelingt ihm das in seiner Arie „Wie ein schöner Frühlingsmorgen“ respektabel; szenisch ist er wie die anderen auf ziemlich verlorenem Posten.
Das Publikum goutierte das Vampir-Trauerspiel im Schnelldurchgang mit mattem Beifall, reagierte aber spürbar animiert, als die rustikale Szene der vier Säufer, die sich durch die Jahreszeiten trinken, für humorvollen Kontrast zum düsteren Geschehen sorgte: „Im Herbst, da muss man trinken“ ist eine Lebensweisheit, die das Quartett mit zunehmender alkoholischer Trübung intoniert und artikuliert. Ki-Hyun Park, Nils und Kristian Giesecke und Maik Gruchenberg hoben so die Stimmung dieses flauen Abends, den auch die Staatskapelle Halle unter Josep Caballé-Domenech nicht rettet – trotz ihres geschmeidig-schlanken Streicherklangs, energischer Tempi und – soweit hörbar – nobler Bläser.
Für künftige Freilicht-Events sollten sich die Veranstalter etwas anderes einfallen lassen: Es gibt hunderte von entzückenden Opern und Operetten, die für einen heiter-lauschigen Abend im stimmungsvollen Burghof geeigneter sind als die unglückliche Zurichtung von Marschners bedeutender Oper.
Werner Häußner