Zur aktuellen Kulturpolitik in Österreich:
Grenzen überschreiten – über Grenzen stolpern – und eine reine Null zur Krisenzeit
Die Grenzen sind geöffnet. Weit geöffnet. Sie mögen und werden auch weiterhin offen bleiben. Für die verschiedensten Arten von künstlerischen Grenzgängern, von inspirierten Kreativen oder wie mit großem Mund die heimischen Kulturpolitiker betörenden. Also, als allzu betörend und seelisch beglückend ist das heutige Kunstschaffen ja nicht zu beschreiben. So vielfältig es sich auch zu präsentieren versteht. Der Zwang, sich im kommerziellen Kulturbetrieb einen Platz zu erobern aber auch die Last der Größe vergangener Epochen prägt allzu sehr die Denkungsarten der zahllosen Einzel- und Grenzgänger unter den heimischen Kunstjüngern und -propheten. Die Ego-Blase schwillt mehr und mehr an, doch von einer Nachhaltigkeit starker Kunsterlebnisse durch Persönlichkeiten aus den eigenen Reihen ist kaum etwas zu merken.
Unbestreitbar ist, dass das Angebot an Kulturveranstaltungen in Wien vor der Corona-Krise immens gewesen ist. Stark geprägt von in die Stadt geholten oder eingewanderten Künstlern oder Kuratoren. Der kulturelle Paradigmenwechsel wie auch die gewachsene Diversität in der Wiener Bevölkerung haben allerdings bis zuletzt zu keinen befruchtend wirkenden Ergebnissen geführt. Die Grenzen sind weit geöffnet, die kulturelle Vergangenheit sowie manche der Komfortzonen der Stadt locken Kunstschaffende wie Manager aus aller Welt an. Seit den 1980er Jahren hat sich Wien mehr und mehr als eine weltoffene Stadt darzustellen bemüht. Dies hat es geschafft. Doch eine Analyse der Wertigkeit vieler dieser Kunstproduktionen ….. ja, s‘ist gewesen – und schon wieder völlig vergessen, längst außer Sicht geraten und im Grauen verschwunden.
Das Problem für in führende Positionen hierher geholte Intendanten, Manager, schräge Grenzgänger, Sprücheklopfer, quer durch alle Sparten: Kurz in eine fremde Stadt gekommen, die Freunde des eigenen Netzwerkes im Reisegepäck mitgebracht, stolz sich selbst beworben (oder auch gar nicht), bisschen gestolpert, dann nach kleinen Erfolgen oder argen Misserfolgen (Wiener Volkstheater, nicht nur dieses) wieder abgegangen und auch schon in Vergessenheit geraten – oder die vertraglich vereinbarte Position überhaupt nicht angetreten (Kunsthistorisches Museum). Solch eine Kulturpolitik hat bis jetzt nicht zur Findung eines neuen Profils oder zur Prägung eines sensiblen tieferen Kunstverständnisses in den diversen Bevölkerungsgruppen geführt.
Dominique Meyer, als Direktor der Staatsoper früher in Wien beheimatet und damals sich sehr zufrieden zeigend unterwegs, hatte mehr als einmal formuliert: „Es ist gut, dass wir im Haus so ein internationales Ensemble und offene Grenzen haben.“ Doch was ist geblieben? Der Reihe nach werden seine singenden Schützlinge oder auch seine gastierenden Regisseure von der neuen Direktion nicht mehr akzeptiert. Nur wenige Inszenierungen aus Meyers Jahren haben hier ein Bleiberecht gefunden. Und in diesen Tagen ist aus der Volksoper von Künstlerkündigungen wie von Künstlerprotesten zu hören. Werden die Aufführungen von einer flotten Jungchefin aus den Niederlanden ab 2022 auf ein höheres Niveau als zuvor hinauf gehoben? Oder, später im Rückblick, wurden nur die reiferen heimischen Sänger wie manch jüngerer Eigenbau ausgemistet?
Ein genau passendes Beispiel bezüglich versagender künstlerischer Entwicklung hierzulande ist Conchita Wurst, der Gender-Grenzgänger aus Oberösterreich. Empor geschleudert wurde er durch seinen groß gefeierten internationalen Sieg – doch mit niedrigstem geistigen Anspruch: Eurovision Song Contest – sowie auch durch seine als anziehend oder abweisend empfundenen Kostümierungen. In seiner Heimat hat sich dann allerdings keine musikalische Kraft gezeigt, um diese Kurzzeit-Kunstfigur auch weiterhin im weltweiten Showreigen mitsingen zu lassen. Ein mageres „From Vienna with Love“ mit den Wiener Symphonikern hat auf Beschränktheiten hier wie dort hingewiesen. Klar gesagt: heimische Hilfe zu seiner weiteren Entwicklung ist für ihn wie so viele andere junge Talente ausgeblieben. Heute kennen wir ihn aus den Gratiszeitungen – wechselnd in wohl als ordinär zu bezeichnenden Verkleidungen.
Der perfekt beworbene Kulturtourismus mit seinen Spielarten hat sich in Österreich weit, weit über jegliches Kreativdenken hinweg gesetzt. Diese stillschweigende Kulturliebe der Größe XX Null in den Politikerreihen während der Corona-Monaten mag wohl auch darauf hinweisen, dass in unseren heimischen Regionen wahrscheinlich keine sich mit kraftvoller Phantasie entfaltende Geistigkeit auf die öffentlichen Subventionsgeber einzuwirken vermag. Somit dürfte der Fokus auch in den kommenden Jahren auf die kommerzielle Vermarktung einzelner Produkte, auf mehr oder weniger originelle Ideen eingeladener Theatermenschen oder auf als zeitgeistig ausgegebenes früheres Kulturgut ausgerichtet sein.
Von einer Nestroyschen Seite angedacht: Dies alles ist nicht so unähnlich den Entwicklungen im Welthandel. Zwar nicht von Amazon, doch bei den internationalen kulturellen Vermarktungswirtschaften eingekaufte Container, weit schmälere als die der ‚Ever Given‘, wurden und werden in den Theatern, den Kulturinstitutionen, bei den quer durch die Farben der Parteien farblosen politischen Entscheidungsträgern abgeliefert. Mit Aufschrift wie „Miss Saigon“ (Vorsicht: erst mit 32jähriger Verspätung hier gelandet), „Achtjähriges pianistisches Wunderkind aus Chongqing“, „Lotte de Beer“ (adressiert an die Volksoper, mit dem Zusatz: ‚Viel besser als Robert Meyer‘), „Slagmuylder Christophe“ (Wiener Festwochen, Zusatz: ’sympathisch, in seinem Gefolge Miguel A. López, M. Hassabi & andere Sympathler für die Wiener Herzen‘), „Carmen“ (alte Inszenierung, doch damals sehr modern) oder …. Warten wir ab, welche andere als Hoffnungsträger deklarierte Fracht in der nähern Zukunft zu genießen sein wird. Geschickt durch den Suezkanal, über den Atlantik oder die stark frequentierte Seidenstraße. Natürlich ist aber auch geistiges Gut aus dem Rheinland, der Pfalz oder dem nahen Bratislava (Ware nur locker verpackt, doch originär) nach wie vor willkommen.
Meinhard Rüdenauer