Graz: „genesis-suite“ – Stefaniensaal, 18.3.2025
Foto: Musikverein für Steiermark/Graz
Wer kennt den Komponisten Nathaniel Shilkret? Oder die Genesis-Suite? Mit diesen Fragen könnte man selbst sattelfeste Klassik-Fans in der Millionen-Show gehörig zum Schwitzen bringen. Nathaniel Shilkret (1889-1982) ist ein amerikanischer Musiker, der einer aus Österreich zugewanderten musikalischen Familie entstammt. Bereits im Alter von 5 Jahren lernte er Klarinette und Violine; zwei Jahre später erhielt er auch Klavierunterricht. 1896 ging er als Mitglied des New York Boys‘ Symphony Orchestra mit diesem auf landesweite Tournee; 1902 wurde er vom Orchester als „Phänomen auf der Klarinette“ angekündigt. 1907 war er Mitglied der New Yorker Philharmoniker (wo er u.a. unter der Leitung von Gustav Mahler auftrat). Innerhalb des folgenden Jahrzehnts gehörte er dem Orchester der Metropolitan Opera an, dem Orchester von Victor Herbert, der Grand Concert Band von John Philip Sousa und weiteren Ensembles. Sehr früh wandte er sich dem neuen Medium der Schallplatte zu. Er komponierte und arrangierte Tausende von populären Musikstücken. Er war an zahlreichen Innovationen im Bereich der Tonaufnahme beteiligt, insbesondere an der ersten „elektrischen Aufnahme“. Shilkret zog 1935 nach Los Angeles, um die Zusammenarbeit mit der Filmindustrie zu verstärken. Er schrieb Musik für Hollywood-Produktionen und erhielt 1936 sogar einen Oscar für den besten Song (in dem Film „Swing Time“). Ab den 1940er Jahren widmete er sich wieder der Komposition klassischer Werke.
1944/45, als die Welt im Zuge des Zweiten Weltkriegs kurz vor dem Abgrund zu stehen schien, hatte Shilkret eine Idee. Die ersten Kapitel des Buches Mose sollten von verschiedenen Komponisten vertont werden. Shilkret fragte bei mehreren Komponisten an, und so entstand ein Zyklus, zu dem Shilkret selbst die Schöpfung beisteuerte, der polnische Komponist Alexandre Tansman (1897-1986) Adam und Eva, der französische Komponist Darius Milhaud (1892-1974) Kain und Abel, der italienische Komponist Mario Castelnuovo-Tedesco (1895-1968) Die Flut (Die Arche Noah), der russische Komponist Igor Strawinsky (1882-1971) Babel und der österreichische Komponist Ernst Toch (1887-1964) Der Bund (Der Regenbogen). Einige Komponisten sagten leider ab (Paul Hindemith, Béla Bartók), aber dafür gelang es Shilkret den in Los Angeles lebenden Arnold Schönberg zu überreden für dieses Zyklus das Prelude zu komponieren. Shilkrets Absicht war es mit der Vielfältigkeit der Musikstile ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Sechs der Komponisten waren jüdischen Glaubens, fünf von ihnen aus Europa in die Vereinigten Staaten geflohen. Shilkret und Castelnuovo-Tedesco steuerten Film-Musik-Klänge bei, Milhaud und Toch gemäßigt moderne Musik. Pikantes Detail am Rande: die Avantgardisten Schönberg und Strawinsky konnten sich nicht ausstehen. Und so entstand eine siebensätzige Suite in sehr unterschiedlichen Personalstilen, mit Rezitationen von Bibeltexten. (Für die Komposition weiterer Sätze hatte Shilkret auch Komponisten wie Sergej Prokofjew, Manuel de Falla und Richard Strauss im Blick, doch die Genesis Suite fand keine Fortsetzung.)
Die Suite ist alles andere als ein einheitliches Werk. Ernsthafte Gelegenheitsarbeiten mischen sich mit handwerklich gelungener Filmmusik: Da haben Adam und Eva ihr Liebesthema, da zischelt die Schlange, da funkeln die Sterne und da schwillt die Sintflut gewaltig an. Dazu kommen die Beiträge vom schwungvoll-melodischen Milhaud, vom spätromantischen Toch und vom eklektizistischen Strawinsky, und das hoch expressive Zwölfton-Vorspiel von Arnold Schönberg.
Nach der Premiere am 18. November 1945 in Los Angeles wurde die Genesis-Suite in mehreren US-amerikanischen Städten aufgeführt und auch für Schallplatten aufgenommen. Doch ein Feuer in Shilkrets Haus vernichtete einen großen Teil des Notenmaterials. Erst in den 1990er Jahren wurden die fehlenden Sätze von Patrick Russ rekonstruiert. Heute gilt die Suite als ein einzigartiges musikalisches Dokument der Emigrantengesellschaft im kalifornischen Exil.
Am 27.1.2019 fand im Bruckner-Haus Linz die Österreichische Erstaufführung der Genesis-Suite statt. Nun folgte die Grazer Erstaufführung, die dem Intendanten des Grazer Musikvereins, Dr. Michael Nemeth, zu verdanken ist. Die Erlangung der Genehmigungen für eine Gesamtaufführung ist mit viel Mühe verbunden, sind doch Verhandlungen mit den verschiedensten Musikverlagen erforderlich gewesen (jeder Komponist wird von einem anderen Verlag vertreten).
Das Ergebnis konnte sich sehen und hören lassen. Dieses Werk ist in der Musikgeschichte wohl einzigartig, jeder Teil der Suite ist in einer anderen Musiksprache verfasst. Das Werk ist für Chor und Orchester sowie einen Erzähler, der während der Musik Rezitationen aus der Schöpfungsgeschichte vorzutragen hat, konzipiert.
Foto: Musikverein für Steiermark/Graz
Das Symphonieorchester und der Kammerchor der Kunstuniversität Graz stürzten sich mit einem Feuereifer auf diese Aufgabe, die höchste Bewunderung hervorrief. John Axelrod hat die jungen Damen und Herren bestens einstudiert und für den erkrankten Thomas Quasthoff hat Maria Sintow-Behrens als Sprecherin die Rezitation übernommen. Die in Salzburg geborene Maria Sintow-Behrens, Enkeltochter gleich zweier Österreichischer Kammersängerinnen, studiert derzeit an der Kunstuniversität Graz und hat die biblischen Texte in schönstem Englisch ausdrucksstark und mit perfekt aufgebauter Dramaturgie vorgetragen.
Als ausgezeichnete Ergänzung zu den einzelnen Musikstücken wurden phantasievolle Bühnenbilder, die die junge Grazer Künstlerin Lola Helena Rainer entworfen hat, auf eine große Leinwand, die die Orgel verhüllte, projiziert. Das Ganze ergab ein Gesamtkunstwerk, das wirklich alle Sinne ansprach. Der große Jubel am Schluss bewies, dass das Publikum diese einmalige Gelegenheit, ein so gut wie unbekanntes Meisterwerk der Musikgeschichte erleben zu dürfen, mit großer Begeisterung aufgenommen hat.
Nach der Pause folgte dann noch die Suite Nr, 2 aus dem Ballett Der Feuervogel von Igor Strawinsky, ein Werk, das ebenfalls viel einem Orchester abverlangt. Ich bewundere immer wieder, wenn ich erleben kann wie junge Musiker mit Begeisterung und mit mindestens 110%-igem Einsatz sich ihren Aufgaben widmen. Die vielen Jugendorchester, gegründet von Claudio Abbado, Daniel Barenboim und anderen Dirigenten, haben das schon so oft unter Beweis gestellt. Dem Symphonieorchester der Kunstuniversität Graz gelang unter der musikalischen Leitung von John Axelrod eine farbenprächtige Interpretation von Strawinskys Ballettmusik. Den lautstarken Jubel am Schluss haben sich die jungen Damen und Herren redlich verdient.
Ein unvergesslicher Konzertabend im Stefaniensaal. Die Reise nach Graz hat sich wirklich ausgezahlt, denn wer weiß, wann die Genesis-Suite erstmals in Wien zu hören sein wird?
Walter Nowotny