Starke Frauen und das Wahre, Schöne, Gute
Im Grazer Stefaniensaal gab es das etwas andere Konzert zum Muttertag (14.5.2017)
Der Stefaniensaal. Foto Stefan Pieper
Von Stefan Pieper
Der junge Grazer Dirigent Erich Polz, der immer schon gerne Menschen bewegen wollte und von klein auf von Musik und vor allem von Chören infiziert war und später endlich seine Musikleidenschaft zur Profession machte, ist mit seinem jungen Orchester Modus 21 auf gutem Erfolgskurs. Schon bald steht eine Neueinspielung von Schostakowitschs Sinfonie Nr. an. Wenn nun im Grazer Stefaniensaal ein „Muttertagskonzert“ bestritten wurde, war natürlich anderes als die berüchtigten „schönen Melodien“ zu erwarten. Es ging um weibliches Selbstbewusstsein – musikalisch, psychologisch, literarisch.
Albena Petrovich-Vratchanska. Copyright. Stefan Pieper
Weibliche Komponistinnen sind in der Historie rar – umso stärker artikulieren sich die Komponistinnen der Gegenwart und dies gerne auch in radikaler Diktion. Albena Petrovic-Vratchanska, gebürtige Bulgarin und heute in Luxemburg lebend, hatte sich schon in ihrer vorausgehenden Kammeroper „Music in the Dark“ mit weiblicher Psyche beschäftigt. In ihrer aktuellen sinfonischen Dichtung „Melusine“ überträgt sie dies auf das Format einer sinfonischen Dichtung und zog eine außermusikalische literarische Idee heran, wie es schon Franz Liszt vormachte. Angetan hat es ihr die mittelalterliche Mythenfigur der Melusine: eine sagenhafte Frau, die ihrem Gatten das Versprechen abnahm, sie einen Tag lang in Ruhe zu lassen und auch nicht zu beobachten. Im Falle der Zuwiderhandlung – und das passiert dann nach 25 Jahren – verwandelt sich die holde Schöne in eine Wassernixe und verschwindet für immer in den Katakomben einer Burg, die am Wasser liegt und damit aus dem männlichen Einflussbereich.
Erich Polz. Foto: Stefan Pieper
Die Musik, die der Wahl-Luxemburgerin dazu einfiel, verkörpert eine starke Dualität: Einerseits zwischen einer rätselhaften Sphäre in Gestalt clusterartiger Geräuscheffekte und dunkel aufbrandender Klangflächen und andererseits einem lyrisch psychologisierenden Ich, ausgedrückt durch melodische Gegenpole. Und es gibt ein Leitmotiv, welches sich aus einem Wortspiel mit den Silben des Namens, die ja auch für italienische Tonhöhenbezeichnungen stehen, ergibt. Vor allem: Das Stück mit diesem Dialog aus Abstraktem mit Konkretem, ungezähmter, manchmal perkussiver Geräuschwelt mit einschlägigen sinfonischen Referenzpunkten öffnet die Tore weit, um ein sinfonisch sozialisiertes Publikum in die Klangwelt der Gegenwart „abzuholen“. Erich Polz ließ das Orchester mit zupackendem Biss aufspielen und auch viele sensible Momente funktionierten stimmig. Aber so manches Detail hätte durchaus noch tiefgründiger durchdrungen werden können. Die Partitur, deren Erarbeitung Albena Petrovic-Vratchanska vor vier Jahren begann, gibt dies allemal her!
Nadège Rochat. Foto: Stefan Pieper
Starke Frauen bietet dieser Nachmittag im Stefaniensaal auch weiterhin: Das Potenzial der Cellistin Nadège Rochat liegt in ihrer tiefempfundenen Authentizität, mit der die Schweizerin Edvard Elgars e-Moll Cellokonzert musiziert. Wenn sie und das Orchester zu einer Einheit verwachsen, dann brausen keine plakativen Themen auf und werden keine virtuosen Feuerwerke abgebrannt. Stattdessen lagen hier feinsinnig-tiefgründige Melodien entwaffnend offen, entblößten sich regelrecht. Was für einen seidig schillernden, sphärischen, aber nie blendenden Ton realisiert diese 1991 geborene Interpretin auf ihrem Stradivari-Instrument! Elgars Konzert wurde im Jahr 1917 in Trauer geboren: Es tobte ein fürchterlicher Krieg und Elgar und seine schwer erkrankte Frau litten gemeinsam. Nadège Rochat und das Orchester Modus 21 verweigerten sich dem schweren Pathos und all zu bohrender Verzweiflung. Dafür lag im Stefaniensaal viel zu viel berührende Zärtlichkeit in der Luft! Als Zugabe musizierte Nadege Rochat die Allemande aus Bachs G-Dur-Solosuite. Mit charmanter Leichtigkeit, zugleich tiefem Ernst und einer unerschütterlichen inneren Ruhe.
Muttertag als Ehrentag erfährt schlimme Verkitschungen und ist in der Geschichte auf noch fatalere Weise ideologisch vereinnahmt worden. Deswegen braucht es hier starke Worte und auch mal die provokative Tonart. Was taugt besser, als der brennend aktuelle Text „Allein sein“ von Elfriede Jelinek, vorgetragen hier von der Schauspielerin Aglaia Szyszkowitz. Es geht um Geschlechterverhältnisse, Konventionen, Funktionieren-Müssen, um Räume, in denen das Denken stattfindet. Nachdenken darüber, vor dem so viele Menschen in heutiger Angepasstheit (oder der Illusion von Alternativlosigkeit) blind geworden sind. Solche Botschaften konnte man unterschreiben – und sie enthoben das Konzert einmal mehr von der Ebene des einfach nur „schönen“ haushoch auf eine Stufe des „wahren und guten.“
So soll es auch zugehen, wenn Erich Polz Beethovens Sinfonik interpretiert. Es geht darum, dass alles „von Herzen kommt und wieder zu Herzen geht“, wie Beethoven das formulierte, wofür heute Worte wie Botschaft, oder gar „Message“ strapaziert werden.
Polz, ein leidenschaftlicher Bergsteiger, erklimmt mit Beethovens Dritter Sinfonie, der Eroica, einen Giganten. Aber eben nicht im Alleingang! Dafür war ein Wachsen-Lassen aller menschlichen Kräfte in seinem hochmotivierten Orchester spürbar. Es geht um Präzision – klar – aber noch viel mehr um das spontane Aufgreifen von Entwicklungen aus dem Moment heraus. Was aber zu einer extrem genauen Lesart der Partitur keineswegs im Widerspruch stand. Emotionen und Geist werden hellwach, wenn die Tempi nach vorne drängen, Szforzati explodieren und ein atmender Austausch zwischen heroisch auftrumpfender Geste und lyrisch warmer Kantabilität entsteht. Wer sich so hineingezogen fühlte in die vielgestaltigen Seelenzustände, konnte sich wohl kaum noch über den einen oder andern Hornkiekser ereifern…
Ob für Erich Polz alles in Erfüllung gegangen war, was er sich vorher für diese Aufführung ausgedacht hatte, war die Frage beim Empfang nach dem Konzert. Nein, es komme immer anders, wenn Menschen in einem lebenden Organismus vereint sind, lautete das eigene Fazit hinterher: „Du hast eine wahnsinnig große Idee und weißt, in welchem Teil der Sinfonie Du welche Emotion starten will. Das Orchester ist ein Lebewesen, dem Du nicht einfach die eigene Vorstellung aufdrücken kannst. Es darum, mit Feingefühl an das heranzugehen, was kommt und daraus etwas zu machen.“
Stefan Pieper