GRAZ / Opernhaus: KZ-Oper DIE PASSAGIERIN von Mieczyslaw Weinberg
18. September 2020 (Premiere)
Von Manfred A. Schmid
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt
gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.
J. W. Goethe (Torquato Tasso)
Theodor W. Adornos vielzitiertes Diktum, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“, das alsbald auf alle Sparten der Kunst übertragen worden war, hielt der Wirklichkeit nicht lange stand. Paul Celan war einer der ersten. der in seiner berühmten Todesfuge das Grauen des Holokaust beschrieb („Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts…“), und die polnische Schriftstellerin Zofia Posmysz veröffentlichte 1962 ihrer literarische Aufarbeitung ihrer Erfahrungen im KZ Auschwitz-Birkenau unter dem Titel Pasazerka (Die Pasasagierin): „Lange habe ich geglaubt, es gäbe keine Sprache, in der man das beschrieben kann, was damals passierte ist. Aber im Laufe der Jahre bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass wir sprechen müssen. Wir dürfen niemals vergessen.“
Schon 1964 wurde das Buch, das davon handelt, wie eine ehemalige KZ-Aufseherin darauf reagiert, als sie auf einer Schiffsreise nach Brasilien einen ihrer weiblichen Häftlinge zu erkennen glaubt, verfilmt; 1968 stellte der in der Nazi-Zeit nach Russland emigrierte polnische Komponist Mieczyslaw Weinberg seine darauf basierende Oper Die Passagierin, nach einem Libretto von Alexander Medwedew, fertig. Da das Werk des mit Dmitri Schostakowitsch befreundeten Weinberg von der Zensur aber als „abstrakter Humanismus“ eingestuft wurde, sollte es bis zum Jahr 2005 dauern, bis es zu einer konzertanten Uraufführung in Moskau kam. Die akklamierte szenische Uraufführung fand erst im Jahr 2010 im Rahmen der Bregenzer Festspiele statt und wurde dann an einigen großen europäischen Opernhäusern in Kooperation nachgespielt.
Dass sich die Grazer Oper dazu entschlossen hat, die neue Spielzeit mit diesem Werk zu eröffnen und damit zum ersten Mal in Österreich auf die Bühne zu bringen, ist eine Großtat und passt hervorragend zur ebenso sorgsamen wie mutigen Spielplangestaltung des Hauses, wurden dort in jüngster Vergangenheit doch auch die selten gespielte Oper Król Roger von Karol Szymanowski und die vergessene Operette Die polnische Hochzeit von Joseph Beer aufgeführt. Ursprünglich war die Premiere schon für das Frühjahr vorgesehen, musste aber wegen des Corona-Lockdowns verschoben werden.
Das Ungewohnte und zugleich Reizvolle der literarischen Vorlage besteht darin, dass die Autorin das, was 1944 im KZ vorgefallen ist, in erster Linie aus der Perspektive der KZ-Aufseherin Lisa Revue passieren und kommentieren lässt, und dass es zwei Schauplätze der Handlung gibt, die einander abwechseln und ineinander übergehen: das mondäne Treiben auf dem Schiff und der graue Alltag im KZ. Die verdrängten Erfahrungen ragen und wirken dabei von Bild zu Bild immer mehr in die Gegenwart hinein. Lisa, die mit ihrem Mann Walter auf einem Schiff Richtung Brasilien unterwegs ist, wo er eine Stelle im diplomatischen Dienst antreten soll, entdeckt in einer Mitreisenden frappante Ähnlichkeiten zu einer ihrer einst untergebenen weiblichen Häftlinge. Obwohl auf ihr Drängen hin ein Schiffskellner nachforscht und sie mit seiner Feststellung, dass es sich um eine Engländerin handle, zunächst einmal beruhigt, verdichten sich die Hinweise immer mehr zur Gewissheit, dass es sich bei der Fremden um eben jene Person handle, zu der sie im KZ eine besondere Beziehung aufgebaut und die sie des Öfteren bevorzugt behandelt hatte, die sie letztendlich aber auch in den ominösen schwarzen Block und damit in den vermeintlichen Tod geschickt hatte.
Marta, die geheimnisvolle Passagierin, bleibt an Bord immer stumm. Nur in den Episoden im KZ ist sie die von ihren jüdischen Mithäftlingen im Frauenblock geschätzte und geliebte, wortgewandte Anführerin und Trösterin, die ihnen in ihrer Verzweiflung einen Funken Hoffnung vermittelt: „Aus den Gefängnissen kann man entlassen werden. Aus den Lagern kann man zurückkehren,“ lautet ihre aufmunternde Botschaft, aber auch die Anweisung: „Wir werden niemals vergeben.“ Nadja Stefanoff ist eine wunderbar agierende und berührend singende Marta. Selbstbewusst und rätselhaft. Man versteht kaum, wo diese Marta ihre Stärke hernimmt. In den Episoden mit ihren Schicksalsgenossinnen, die als ganz Europa kommen, weshalb in dieser Oper in deutscher, polnischer, französischer, tschechischer, jüdischer, russischer und englischer Sprache (mit deutschen Überteilen) gesprochen und gesungen wird, gibt es viele Gebete, Gott wird innig angerufen, auch Jesus Christus, es wird aber auch, angesichts der Grausamkeit, die Frage aufgeworfen, ob er überhaupt existiert.
Wie in der Gruppe rund um Marta mit den Verzweifelten umgegangen wird, wie man sich gegenseitig Halt gibt, wird in dieser stimmigen Inszenierung von Nadja Loschky fein herausgearbeitet. Besonders berührend ist die Volksweise, die gebürtige Russin Katja (eindringlich Tetiana Miyus), dazu aufgefordert von Marta, zum Besten gibt und dabei schönere Tage beschwört, die leider längst vergangen sind. Ihr Vortrag wird von der hereinplatzenden SS (Ivan Orescan, David McShane, Martin Fournier) inunterbrochen. Die Selektion beginnt. Richtige Gewaltszenen gibt es kaum. Dennoch ist die Gewalt stets lauernd da. Erschütternd die Szene, als jede Jüdin von aufmarschierenden Schiffskellnern – in einer irritierend-grandiosen Verknüpfung der beiden Schauplätze – Schilder mit ihren KZ-Nummern auf einem Tablett serviert bekommen. Als dann die Nummern nach und nach aufgerufen werden, tritt die jeweils Betroffene (Antonia Cosmina Stancu, Anna Brull, Mareike Jankonwski, Sieglinde Feldhoer und Joanna Motulewicz, jede verleiht ihrer Figur ein eigenes, markantes Profil) nach vorne, fällt um, wird abtransportiert und in einem Schubfach entsorgt.
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Etienne Pluss hat dafür einen praktikablen, weißgrauen Bühnenraum geschaffen, der sich mit wenigen Versatzstücken – Sesseln und Tischchen – in eine Räumlichkeit im KZ oder auf einem Schiff verwandeln lässt. An den Seitenwänden gibt es jede Menge Stauräume. Diese dienen für die Gepäckstücke der Passagiere, vor allem aber für Lisa, die auf der Bühne – ein großartiger Einfall der Regisseurin – in dreifacher Gestalt in Erscheinung tritt und – als alte Frau – einmal vergeblich versucht, die von den Häftlingen vor dem Eintritt in die Gaskammer hinterlassenen Schuhe und Kleider darin – und damit auch ihre Erinnerung daran – ein für alle Mal zu verstauen und wegzusperren. Doch die schreckliche Vergangenheit lässt sich nicht einfach verdrängen und vergessen, sie ist immer präsent und wird Lisa bis an ihr Lebensende verfolgen. Das zu versinnbildlichen, ist die Aufgabe der Lisa als alte Frau, eindrücklich dargestellt von Isabella Albrecht, die beinahe durchgehend vom Anfang bis zum Schluss auf der Bühne präsent ist. Sie kommentiert das Geschehene – stumm. Einmal gedankenverloren, dann besorgt, zuweilen beunruhigt, manchmal unbeteiligt, einmal sogar das Liedchen vom Lieben Augustin fröhlich vor sich hin summend. Diese Melodie taucht später, in grotesker Verzerrung, in einer Szene des versammelten Wachpersonals und der Lagerchefs erneut auf: Nun aber klingt sie bedrohlich und aggressiv. Auch allmählich einsetzender Fatalismus steckt da schon drin: Der Feind ist näher gerückt, Kiew bereits gefallen.
Dshamilja Kaiser verkörpert und singt den Part der Lisa an Bord des Schiffes. Nur nach und nach rückt sie mit der Wahrheit heraus und erzählt ihrem Ehemann Walter (Will Hartmann) vor ihrer unseligen Vergangenheit, die seiner diplomatischen Karriere sehr schaden könnte, weshalb er auch sehr alarmiert ist, aber sich bald beruhigt und seine beschwichtigt: Sie sei ja nur eine in das von oben angeordnete Treiben hineingeratene Mitläuferin gewesen. Auch Lisa beruft sich darauf, nur ihre Pflicht getan und außerdem nichts wirklich Böses verbrochen zu haben. Ganz im Gegenteil, sie verweist darauf, dass sie durchaus human gewesen sein, vor allem in ihrer Beziehung zu Marta, der sie ja sogar ein Rendezvous mit ihrem Geliebten Tadeusz arrangiert habe, was verboten gewesen wäre. Und das macht Lisa zu einer komplexen Figur, denn sie hat im KZ – als junge Lisa dargestellt von Viktoria Riedl – tatsächlich auch ihre guten Seiten Sie ist kein von Grund auf schlechter Mensch mit einem abgrundtiefen Charakter, wie ihre Vorgesetzte, die Oberaufseherin, der Uschi Plautz einschüchternde Bösartigkeit verleiht. Diese Vielschichtigkeit macht Lisa zu einer bemerkenswerten Figur und ihre Schöpferin zu einer Autorin, die es sich nicht einfach macht: „Ich denke“, so Zofia Posmiysz, „dass ich wahrscheinlich seit der Kindheit schon im Menschen diese … diese andere Seite gesucht habe. Diese bessere Seite, und das ist, glaube ich, geblieben, denn … mein ganzes Leben eigentlich habe ich unter den Menschen … nein, sogar unter denen, die als … als bösartig galten, auch da habe ich nach irgendeiner menschlichen Regung gesucht.“ Und so ist s nicht weiter verwunderlich, wenn man zuweilen den Eindruck hat, dass in der Figur der Lisa alt auch ein Stück der heute 97-jährigen Autorin Zofia Posmysz eingeflossen sein könnte, auch wenn sie nur den Rock der Lisa (Kostüme von Irina Spreckelmeyer) trägt. Verschränkungen zuhauf.
Eine zentrale Stelle nimmt die Liebesgeschichte zwischen Marta und ihrem Bräutigam Tadeusz ein. Nach ihrem ersten Rendezvous ist Lisa bereit, Marta noch eine weitere Gelegenheit zu bieten, ihren Geliebten zu treffen. Doch Tadeusz, der im Untergrund tätig war und weiterhin Kassiber aus dem Lager an die Partisanen verschickt – einer wird bei einer von Martas Kolleginnen gefunden, aber Marta, die ihn vorlesen muss, macht aus der brisanten politischen Nachricht einen Liebesbrief – will sie nicht unnötig in Gefahr bringen und lehnt ein weiteres Treffen ab . Er, ein Musiker, wird zum musikbegeisterten Lagerkommandanten gerufen, um ihm auf der Geige seinen Lieblingswalzer vorzuspielen. Doch in seinem eigenwilligen Trotz und Stolz weigert er sich und spielt stattdessen Bachs Chaconne. Daraufhin wird er misshandelt und zur Liquidation abtransportiert. Markus Butters Auftritte elektrisieren durch ihre kompromisslose Direktheit.
Die Chaconne wird vom Orchester noch gespenstisch-schwermütig weitergesponnen. Weinberg hat eine dicht gesponnene Partitur verfasst, in er Zwölftonmusik ebenso vertreten ist wie Anklänge an Jazz und schlichte, volksliedhafte Passagen. Gespenstisch die Szene, wenn zum Lieblingswalzer des Kommandanten dann an Bord des Schiffes fröhlich getanzt wird. Verschränkungen, Konfusionen, Verrenkungen an allen Orten. All das ergibt eine spannungsreiche Mixtur mit enormen Schlagwerk-Einsatz und erinnert entfernt an Bergs Wozzeck, aber auch an die Musik seines Freundes und Mentors Schostakowitsch oder an den Personalstil von Benjamin Britten. Die Vokallinien sind deklamatorisch angelegt und werden von den Solistinnen und den Solisten wortdeutlich und expressiv gesungen. Das Orchester. die Grazer Philharmoniker unter der hochpräsenten, wachsamen Leitung von Roland Kluttig, dem neuen Chefdirigenten der Oper Graz, bringen die komplexen Klangbilder mit viel Animo und großer Könnerschaft zum Leuchten. Die Probezeit muss angesichts der Herausforderungen höchst spannend gewesen sein. Das Ergebnis ist überzeugend und wird – wie das ganze Ensemble, inklusive des stark eingesetzten Chores zu Recht mit Beifall als Ereignis gewürdigt. Angesichts der Thematik nicht unbedingt begeistert, dafür aber zutiefst beeindruckt und ergriffen. Weinbergs Oper Die Passagierin ist ein singuläres Meisterwerk, das von der Oper Graz einfallsreich und entsprechend niveauvoll darageboten wird.