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GRAZ/ Opernhaus: DIE PASSAGIERIN von Mieczylaw Weinberg

17.10.2020 | Oper in Österreich

Die Passagierin | Oper Graz
Foto: Oper Graz/ Kmetitsch

Graz: „DIE PASSAGIERIN“16.10.2020

Nachdem mein Kollege Walter Nowotny bereits im Oktoberheft einen profunden Premierenbericht über das Werk, seine Entstehung und die großartige Grazer Erstaufführung geschrieben hat, kann ich mich auf Ergänzendes konzentrieren.
Ich zähle diese Oper von Mieczylaw Weinberg bereits nach dem erstmaligen Hören inhaltlich und musikalisch zu den Spitzenwerken dieser Gattung. Sie sollte von allen Opernhäusern möglichst bald nachgespielt werden. (18 bis 19 Theater haben es bereits getan.) Ich kann mir aber auch keine bessere Aufführung als die am Grazer Opernhaus vorstellen, wo sie ständig im Repertoire bleiben sollte, oder, falls nicht möglich, als Ko-Produktion an andere Theater weiterzugeben wäre.

Natürlich sorgt in erster Linie die Handlung, die doppelbödig präsentiert wird, für große Anteilnahme. Einerseits  erhalten wir Einblick in die Grauen des Auschwitzer Konzentrationslagers, andererseits erfassen wir durch die Person der ehemaligen Aufseherin Lisa, die nach Ende der NS-Zeit vergebens in ein neues, normales Leben überzuwechseln versucht hat, letztendlich aber von den auch für sie grauenhaften Erinnerungen nicht loskommt, wie unmöglich das im Grunde ist. Die Mezzosopranistin Dshamilja Kaiser, zu Beginn der Oper als Lisa in mittlerem Alter und anscheinend glücklich verheiratet mit ihrem Walter, dem sehr sympathisch wirkenden Tenor Will Hartmann, mit dem sie von Deutschland nach Brasilien reist, wo er einen Diplomatenposten einnehmen soll, gestaltet ihre Erinnerungen, die nicht weichen wollen, bezwingend. Dass Weinberg nicht einen Bariton oder Bass als Ehemann gewählt hat, mag damit zu begründen sein, dass die helle Männerstimme „unschuldiger“ klingt als ein dunkleres Organ, und auf Lisa wohltuend wirkt. Der – in allen verwendeten Sprachen – überaus wortdeutliche Gesang bleibt nicht auf das Ehepaar beschränkt. Bald erfreut uns auch bei allen übrigen Solisten dieser Vorzug, nicht zuletzt dank der sehr sangbaren Komposition. Nie werden die Stimmen vom Orchester zugedeckt, immer jedoch emotional unterstützt. Das lässt sich allem Anschein nach mühelos nicht nur vom Dirigenten Roland Kluttig mit den Grazer Philharmonikern problemlos umsetzen, sondern tut es wohl mit jedem anderen Klangkörper auch, weil mit Zugriff auf unterscheidliche Klangwelten sehr einfühlsam und bühnengerecht komponiert.

Dass in dieser Inszenierung ein weit älteres Double der Lisa stumm agiert – großartig von der Schauspielerin Isabela Albrecht dargestellt, die aus fernerer Sicht den Gang der Ereignisse mit- bzw. nacherlebt, ist ein vortrefflicher Einfall der Inszenatoren. Sie ermöglicht es uns, die Notwendigkeit sowohl gehorsamen als auch durchdachten Verhaltens besser zu verstehen, indem sie Handlangerdienste, wie z.B. die Aufbewahrung der Musikinstrumente und dann deren Weiterreichung tätigt. Oder weit schlimmer: die Kleider und Schuhe der ermordeten Frauen sorgsam stapelt und dann in die unzähligen Kästen verstaut. Die Figur könnte von der überlebenden, jetzt  97-jährigen polnischen Autorin des Romans, Zofia Posmysz inspiriert sein, mit der die beiden Dramaturginnen Marlene Hahn und Yvonne Gebauer in  Warschau Kontakt aufnehmen konnten. Wir fühlen uns somit gleichsam mitten drin im Gesamtgeschehen.

Die Wahl eines Einheitsschauplatzes – grau in grau, entspricht der tristen Geschichte. Auflockerungen bringt ein grauer Zwischenvorhang auf halber Bühne, der von links nach rechts oder umgekehrt auf- oder zugezogen wird, um rasch etwas zu verbergen oder sichtbar zu machen. In jedem Fall sorgt es für Spannung, die natürlich auch dadurch bewirkt wird, dass die Bühne durch Zwischenwände unterteilt oder erweitert wird und somit andere Schauplätze, bald heller, bald dunkler, und in verschiedenen Farben gezeigt werden können. Knallhelle Szenen „erleuchten“ uns zumeist die Auschwitzer Befehlshaber, die von den Autoren der Oper auf brillante Weise in ihren Ablenkungsmanövern gezeigt werden – Alkohol in rauen Mengen, tänzerische und vokale Eskapaden, abfällige Äußerungen und entbehrenswerte Entschuldigungen für ihr anbefohlenes Handeln… Die drei SSS-Männer Ivan Oreščanin, David McShane und Armin Fournier machen das ebenso bewunderungswert wie Oberaufseherin Uschi Plautz, bei der sich kein Fünkchen Gewissen zu regen scheint.

 Eine andere Welt wird gezeigt, wenn die Opfer auf der Bühne stehen. Alle, die Männer wie die Frauen, zeichnen sich durch eine bewundernswert aufrechte Haltung aus. Ihre kahl geschorenen Köpfe und schmutzigen bloßen Füße können sie nicht ihrer Würde berauben. Auch unvermeidliche schmerzhafte Verkrümmungen berauben die Frauen und Männer nicht ihrer Menschlichkeit.

Nicht willkürlich lassen die Autoren der Oper, wie natürlich auch die Inszenatoren,  diese Opfer der NS-Willkür menschenwürdig auftreten. Die Frauen flüchten sich, wo und wann immer ihnen kurz dafür Zeit gelassen wird, in normale menschliche Empfindungen und Erinnerungen, sie singen Lieder aus ihrer Heimat oder gedenken ihrer vermissten Angehörigen. Das sind richtig schöne Szenen auf heller Bühne, wenn auch in abgeschlossenen Räumen. Nur die Protagonistin, Marta, großartig dargestellt und mit hellem, warmem Sopran von Nadja Stefanoff  ebenso kraftvoll wie verinnerlicht gesungen, unterscheidet sich in einer Hinsicht von ihren Leidensgenossinnen: Sie will einfach nicht akzeptieren, dass sie von ihrer Aufseherin zur Favoritin erwählt wurde, der mehrfach Erleichterung gewährt wird.

Obwohl sie schlussendlich überlebt, verfolgt ihr Hass die dadurch ebenfalls gequälte Lisa. Ihr geliebter Tadeusz, den Lisa ihr zuführt und dem als begeistertem Musiker sogar das Geigenspielen gewährt wird, hat mit Marta eines gemeinsam: Er lässt sich nicht so ohne weiteres auf derlei Begünstigungen inmitten eines unmenschlichen Ambientes ein und spielt statt des von den Aufsehern gewünschten Strauß-Walzers eine Chaconne von Johann Sebastian Bach, was zu seiner sofortigen Hinrichtung führt.

Dieser Tadeusz, die wohl allermenschlichste Figur der Oper, voller Wohlwollen und keineswegs falschem Stolz, wird von Markus Butter mit seinem warmen, Mozart-geschulten Bariton herzerweichend dargestellt und gesungen. Natürlich zu einer entsprechend humanen, wohltuend harmonischen Musik.
Aber auch die übrigen todgeweihten Insassinnen des Lagers, Tetiana Miyus (Katja), Antonia Cosmina Stanen (Krystina), Anna Brull (Vlasta), Mareike Jankowski (Hannah), Paulina Tuzińska (einspringend für die erkrankte Sieglinde Feldhofer als Yvette) und Joanna Motulewicz (Bronka) sowie Ju Suk (Alte) erbringen ungemein ergreifende Mädchen- und Frauenporträts. Der wunderbaren hellen Gruppenszene folgt in gleicher Helle die Ermordung der Frauen, eine nach der anderen plus deren Abtransport erfolgt gleichsam automatisch. Fast meine ich, dass man die jeweilige,  passende musikalische „Untermalung“ solcher Geschehnisse dann schon unbewusst zur Kenntnis nahm. Es hätte ja besser nicht sein können. Als älterer Passagier sei noch das bassale griechische „Urgestein“ der Grazer Oper, Konstantin Sfiris, lobend erwähnt. Unter den Solisten werden auf dem Programmzettel noch die Schauspielerin Viktoria Riedl als junge Lisa,  Binaca Hanžel als Kapo und Adrián Berthely als Steward genannt. Alle haben, wie auch die Statisterie, Bestes geleistet.
Der von Bernhard Schneider einstudierte Chor tat ein Übriges, um der „großen Oper“ dienlich zu sein.

Weinbergs  Instrumentation ist meisterhaft. Alle Instrumentalgruppen finden den jeweils passenden Einsatz, ob für Zartes, Gefühlsintensives, Besinnliches, Grausames, Gewaltsames, Erschreckendes, oder stilles, nie erlahmendes Schuldbewusstsein – das ist Musik zum Anhören und zum Hineinhören, die zum Denken ebenso anregt, wie sie uns aufwühlt.

Alle diese geglückten Vorgaben eins zu eins umgesetzt zu haben, dafür ist der Inszenatorin Nadja Loschky ebenso wie der Bühnengestalterin Etienne Pluss und der Kostümbildnern Irina Spreckelmeyer, dem Licht-Verantwortlichen Sebastian Alphons und für die szenische Einstudierung Nick Westbrock sowie den bereits genannten Dramaturginnen von Herzen zu danken. Und nicht zuletzt der Intendantin Nora Schmid, die – noch dazu unter den erschwerten  Bedingungen des „Abstandhaltens“ – die vom letzten Frühjahr auf diesen Herbst verschobene Aufführung ermöglicht hat!                                        
Sieglinde Pfabigan       

 

 

 

 

 

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