GRAZ / Opernhaus: Wiederaufnahme von Peter Konwitschnys LA TRAVIATA
10. November 2024 (Derniere)
Von Manfred A. Schmid
Verdis La Traviata in kaum mehr als einer Stunde und 45 Minuten. Kann das gutgehen? Seit dem 22. Jänner 2011 weiß man es: Das geht, wenn ein Könner wie Peter Konwitschny am Werk ist, der in seiner Grazer Inszenierung den Fokus ganz auf Violetta Valery richtet, die Oper von Ballast befreit und auf den Maskenchor und das Ballett sowie einige Wiederholungen verzichtet. Auch eine Pause ist nicht erforderlich, da es keine Umbauarbeiten gibt: Die Bühne von Johannes Leiacker besteht nur aus einem Stuhl und einem kleinen Stapel von Büchern, auf den sich Alfredo Germont einmal niederlässt, ein unelegant gekleideter Büchernarr und realitätsferner Außenseiter in einer oberflächlichen Gesellschaft, die voyeuristisch den Niedergang Traviatas, der vom Weg Abgekommenen, verfolgt. Dazu kommen noch mehrere Bühnenvorhänge. Für Konwitschny stehen sie für die Zeit, die der todkranken Kurtisane Violeta noch zur Verfügung steht: Bis zu der herzergreifenden Szene, wenn Violeta und ihr Geliebter verzweifelt mit ihren hochgereckten Händen Vorhänge zuziehen wollen, die es längst nicht mehr gibt. Violeta stirbt schließlich allein auf der Bühne. Auch Alfredo ist über die Seitenbalkone in den Zuschauerraum geflüchtet, wo er im Mittelgang, an der Seite seines Vaters und Doktor Grenvils, mehr oder weniger betroffen Zeuge wird, wie sie im Dunkel verschwindet. (Diese Demaskierung eines lüsternen, skandalgeilen Publikums, hier dramaturgisch nachvollziehbar vorgeführt, hat jüngst Lotte de Beer in ihrer Carmen-Inszenierung an der Volksoper Wien am falschen Objekt und mit unzulänglichen Mitteln zu wiederholen versucht und ist dabei kläglich gescheitert.)
Eine Schlüsselszene in Konwitschnys Inszenierung ist der Besuch Giorgio Germonts bei Violetta auf dem Land. Sie wird von ihm barsch erpresst, indem er seiner Forderung, auf seinen Sohn Alfredo zu verzichten, dadurch Nachdruck verleiht, dass er nicht allein, sondern mit seiner achtjährigen Tochter aufkreuzt, deren Zukunft ja angeblich von ihrem Einlenken abhängen soll. Erst als er, in Wut versetzt, das Kind, das sich mit seinem groben Umgang mit Violeta nicht einverstanden zeigt, mit einer Ohrfeige auf den Boden schleudert, gibt sie nach. Zum Wohl dieses Kindes und total verstört. Sie spricht von ihrem nahen Tod, zieht eine Pistole aus ihrer Handtasche, hält sie an ihre Schläfe und zielt damit später kurz auch auf ihren brutalen Erpresser, bevor sie dann doch, von Schmerz überwältigt, kapituliert.
Konwitschnys Inszenierung, seit ihrer Premiere in Graz immer wieder in Wiederaufnahmen gespielt und inzwischen auch in Nürnberg und 2022 am Theater an der Wien präsentiert, funktioniert dank der kraftvollen und psychologisch profunden Personenregie, die – zusammen mit der fesselnden Musik – eine Sogwirkung erzeugt, der man sich schwer entziehen kann. Zur rechten Entfaltung braucht es allerdings auch die richtigen Sängerinnen und Sänger, und die sind bei dieser Wiederaufnahm auch tatsächlich vorhanden. Galina Cheplakova in der Titelrolle berührt mit zarten Piani, starken Klangfarben in emotionalen Ausbrüchen und feinen Legato-Bögen, und das nicht erst in der packenden Sterbeszene, sondern von Beginn an. Kein Wunder: Die aus Russland stammende Sopranistin wie demnächst in Berlin mit den Berliner Philharmonikern, unter der Leitung von Kirill Petrenko die Titelrolle in Rachmaninows konzertant aufgeführter Francesca di Rimini singen.
Der russische Tenor Alexey Neklyudov, der schon bei der Wiederaufnahme vor zwei Jahren als Alfredo Germont im Einsatz war, verkörpert einen etwas zerfahrenen, leicht beeinflussbaren Mann, der auf Violetas überraschende Abreise mit blindem Hass aus Eifersucht reagiert. Dazu passt sein schlanker lyrischer Tenor, der angenehm klingt und auch in der Höhe stabil ist, ohne aber außergewöhnlich zu sein. Als Alfredo emotional extrem herausgefordert wird, sucht er in dieser Inszenierung Zuflucht in den Armen seines Vaters.
Von erlesener Qualität ist der britische Sänger James Rutherford, der schon bei der Premiere 2011, damals noch Ensemblemitglied, den Vater Germont gesungen und gespielt hat, inzwischen international als gesuchter Bariton und auch im deutschen Fach bis hin zu Wagner Karriere gemacht hat und stimmlich wie auch darstellerisch gereift ist. Mit seinem warmtönenden Bariton und dank imponierender Bühnenpräsenz zieht er bei jedem Auftritt die Aufmerksamkeit auf sich. Besonders in Szene mach Violetas Rückkehr in die Pariser Abendgesellschaft, wo sein plötzliches Auftauchen sofort alles Gemurmel und Treiben ersterben lässt. Wohlströmend gestaltet er die lyrischen Arien, mit denen er Violeta und Alfredo herumkriegen will, was ihm, unter Zuhilfenahme weiterer Tricks, auch gelingt.
Alle kleineren Rollen sind mit meist jungen Kräften aus dem Haus besetzt. Zu erwähnen sind u.a. Sofia Vinnik (Flora), Neira Muhic (Annina), Euiyong Peter Oh (Gastone), Markus Butter (Baron Duphol), Will Frost (Marquis d’Obigny) und Daeho Kim als Doktor Grenvil.
Zum Erfolg dieses exzellenten Opernnachmittags im restlos ausverkauften Haus tragen auch die von Matteo Beltrami geleiteten Grazer Philharmoniker bei. Schon beim Erklingen der ersten Töne des Vorspiels, wenn die sanften, entrückten, gläsernen Klänge der Streicher aus schwebender Höhe wie Seufzer-Girlanden zu Boden sinken, ahnt man, dass etwas Besonderes zu erleben sein wird. Und so ist es dann auch: Ergriffener, dankbarer Applaus für eine wunderbare Dernière.
Anmerkung: Die Oper Graz ist um mehrere Produktionen Peter Konwitschnys zu beneiden. In Wien reichte es all die Jahre nur zu einer einzigen Konwitschny-Inszenierung: der französischen Fassung von Verdis Otello. Aber auch die hat es in sich.