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GRAZ / Oper: Kurt Weills ONE TOUCH OF VENUS – Erstaufführung

Das famose Orchester spielt Weill, auf der Bühne geht alles in Trümmer

18.12.2022 | Operette/Musical

 

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Ivan Orescanin (Whitelaw Savory) und Ensemble. Alle Fotos: Oper Graz / Werner Kmetitsch

GRAZ / Oper: Wenig HAUCH VON VENUS

17.Dezember 2022 (Österreichische Erstaufführung)

Von Manfred A. Schmid

Kurt Weill gelang mit One Touch of Venus ein beachtlicher Erfolg am Broadway. Mehr als 500 Vorstellungen zeigten dem Immigranten, der nach seinen spektakulären Erfolgen mit Die Dreigroschenoper und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny mit der Machtübernahme des Naziregimes aus Berlin flüchten musste, dass er nun endlich auch musikalisch voll in seiner neuen Heimat New York angekommen war. Dennoch tat sich das am „Pygmalion“-Stoff angelehnte Musical eher schwer, sich auf den Bühnen international durchzusetzen. Die Zahl der Neuproduktionen ist überschaubar. Dass es bis zur österreichischen Erstaufführung rund sechzig Jahre gedauert hat, ist nur ein weiterer Beweis dafür. Weills satirisch angehauchte musical comedy, in der die spießerische Welt der amerikanischen Suburbia feinsinnig und witzig karikiert wird, war schon bei der Uraufführung nicht unumstritten. Was Jahrzehnte später Stephen Sondheim unternahm, nämlich die Themenlandschaft amerikanischer Musicals höchst originell zu erweitern und zu bereichern, findet sich schon bei Weill und seinen Textautoren Ogden Nash und S.J. Perelman angelegt, wurde damals aber wohl als zu kühn empfunden. Umso mehr ist zu würdigen, dass Graz sich dazu entschlossen hat, sich dieses genialen Werks anzunehmen. Dass die Umsetzung leider zu wünschen übriglässt, steht nicht auf einem anderen Blatt, sondern folgt hier in Kürze.

Ein Hauch von Venus ist ein modernes Märchen im Broadway-Stil. Die Statue der Liebesgöttin Venus, die von dubiosen Schmugglern eben in das Haus ihres Auftraggebers, eines reichen Kunstliebhabers,  gebracht worden ist, erwacht zum Leben, nachdem ein netter junger Friseur ihr beiläufig den eben für seine Braut gekauften Verlobungsring über den Finger gestreift hat. Das Leben des eher einfach gestrickten amerikanischen Durchschnittsbürgers wird durch die nach 3000 Jahren aus der Erstarrung befreite Venus, die sich – wohl aus Dankbarkeit – ihm gegenüber erotisch verpflichtet fühlt und sich in ihn, trotz seiner Biederkeit, verliebt, gehörig durcheinandergebracht. Nachdem Venus dank ihrer Zauberkraft seine Braut, die ihn mit ihrer Mutter eifersüchtig unter Druck setzt, in die Verbannung auf dem Nordpol geschickt hat, wird er des Mordes beschuldigt und landet, wie auch Venus, im Gefängnis.  Aus dem Gefängnis entwichen, kommt es zur göttlichen Liebesnacht. Als der Friseur ihr erzählt, wie er sich ihr gemeinsames Leben in einem Häuschen mit Garten und Kindern in einer Suburb (Vorstadt) vorstellt, beschließt sie, dem Leben als typische amerikanische Hausfrau doch lieber eine Rückkehr in den Olymp vorzuziehen.

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Dionne Wudu (Venus) und Christof Messner (Rodney Hatch).

Die Himmelfahrt der Venus in einer Muschel à la Botticelli gehört zu den besser gelungenen Einfällen der Regie, kann aber die vielen Mängel dieser Inszenierung nicht vergessen machen. Das beginnt schon damit, wie die dramaturgisch wichtige Initial-Szene mit der Erweckung der Statue gelöst wird. Die Statue selbst bekommt man nie zu Gesicht. Nur ihre marmorweißen Finger ragen aus der Transportkiste hervor. Nachdem der Ring über einen Finger übergestreift worden ist, findet sich die Venus als eher unauffällig dunkelblaugrün gekleidete Dame auf der Bühne ein, während die Finger weiterhin aus der Kiste winken. Die Chance, die unter Donner und Blitz erfolgte Verwandlung und Erweckung effektvoll auszuspielen, ist damit vertan und verkümmert zu einem belanglosen Episödchen. Stattdessen konzentriert Magdalena Fuchsberger sich darauf, die „innere Welt“, Seelenlandschaft des Herrn Friseurs namens Rodney gedankenschwer auf die Bühne zu bringen. In ihrer Interpretation leidet der nämlich an den Folgen eines schweren Traumas, ausgelöst durch die überraschende Begegnung mit der Dame aus der Götterwelt. Diese hinterließ lauter Trümmer in seinem Inneren, und die Bühne von Monika Biegler ist folglich ein Eisengerüst, das mit riesengroßen Trümmern der Statue der Venus von Milo bestückt ist, an denen in einem fort herumgeschliffen, gehämmert und poliert wird: Restaurateurinnen als Psychotherapeuten bei der Arbeit. Da wird dem guten Friseur wohl zu viel Seelenqual zugemutet. Gequält wird hier eher nur das – bei der Premiere sehr duldsame – Publikum.

Ein weiterer Fokus der Regie speist sich aus der Erkenntnis, dass das Musical 1943, also mitten im Zweiten Weltkrieg, zur Uraufführung gebracht worden war. Das muss doch Spuren im Werk hinterlassen haben. Die Metallkonstruktion wird daher flugs zu einer Rüstungsfabrik umgedeutet, „wo Frauen für den Krieg arbeiten“ (Biegler). Die in Trümmern liegende Venus ist dann auch „eine Art Kriegslandschaft in Rodneys Traum“, und die Arbeit an den „Venusteilen“ macht diese zu einem „Teil der Kriegsmaschinerie“ und zu „Waffen der Frau“. Davon hatten Weill, Nash und Perelman, die in erster Linie auf einem geistreichen, hohen Niveau unterhalten wollten, wohl kaum eine Ahnung. Erst das Grazer leading team hat die „metapyhsische“ Grundierung ihrer künstlerischen Zusammenarbeit entdeckt und auf die Bühne gebracht. Dass die lächerlichen Figuren, die, als Panzer, Bazookas und Bomben verkleidet, herumstolzieren und auch ein peinliches Kriegsballett aufführen (Choreographie Alexander Novikov), ist in Zeiten, in denen 400 km von Graz entfernt tatsächlich ein grausamer Krieg zum Alltag geworden ist, einfach peinlich. Die rhythmisch betonten und fein orchestrierten Balletteinlagen – es gibt neben amerikanischen Tänzen wie Foxtrott auch Walzer – gehören zu einem amerikanischen Musical einfach unabdingbar dazu und haben mit dem Brecht/Weill-Song „Soldaten wohnen auf den Kanonen“ aus der Dreigroschenoper nichts mehr zu tun. Das Ergebnis: Hier wird keine Geschichte erzählt, sondern Szenen werden bruchstückhaft aneinandergereiht. Die Einzelteile fügen sich nicht zu einem Ganzen. Auf der Bühne geht alles in Trümmer. Und hinter dem Eisengerüst und den Trümmern versucht Aron Kitzig mit Videos, auf denen ein Bild von Picasso und Franz Marcs Blaues Pferd dekonstruiert und ebenfalls in Puzzleteile zerlegt werden, die Begeisterung von Whitelaw Savory, dem die Venus eigentlich gehört, für moderne Kunst auf die Bühne zu bringen. Verlorene Liebesmühe, denn man bekommt vom Dargebotenen wenig zu sehen.

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Ivan Orescanin (Whitelaw Savory) und Ballett-Ensemble.

Erst nach der Pause wird die kuriose Handlung etwas greifbarer. Der absurde, operettenhaft inszenierte Besuch des anatolischen Gesandten bei Venus in ihrer Gefängniszelle, der sie zur Rückkehr in ihrer Heimat als angehimmelte Statue überreden will, und das Gespräch Rodneys mit dem Gefängnisarzt, beide von Michael Großschädl dargestellt, zeigen, worum es den Schöpfern des Musicals ging. Witzige Kritik an amerikanischen Way of Life im Besonderen und am Zustand der Welt im Allgemeinen. Und das in Form von Unterhaltung der anspruchsvollen Art.

Der Mittelpunkt der Handlung sollte eigentlich die abgöttisch schöne, verführerische und lebens- und liebesfreudige Venus sein. Leider ist der bereits erwähnte erste Auftritt kein gutes Omen, und in weiterer Folge bestätigt sich der Verdacht, dass mit Dionne Wudu keine Idealbesetzung für diese zentrale, geheimnisvolle Göttin, die Fleisch geworden ist, gefunden werden konnte. Kurt Weill hatte für die Uraufführung an Marlene Dietrich gedacht und die Diva erfolglos umworben. Es muss ja nicht eine Ikone sein, aber etwas Ausstrahlung wäre da schon von Vorteil. Damit kann Wudu nicht aufwarten. Sie ist das, was eigentlich nur ihr Erwecker Rodney sein sollte, nämlich ein – bis auf seine in dieser Inszenierung verordneten feuerroten Haare – nicht besonders auffälliger, aber irgendwie doch sympathischer Durchschnittstyp. Auch gesanglich tritt sie nicht außergewöhnlich in Erscheinung, in der Höhe nicht sehr stark und ausdrucksmäßig nicht sehr farbenreich. Sie ist okay. Und das ist – für diese Rolle – zu wenig. Ihre wechselnden Kostüme von Valentin Köhler sind auch nicht dazu angetan, sie im Getümmel hervorzugeben. Es dauert bis knapp vor dem Ende, bis sie in einer Garderobe auftritt, die Glamour versprüht.

Christof Messner, Preisträger des Lotte Lenya-Wettbewerbs 2018 und „Kurt Weill/Lotte Lenya-Künstler“, ist ein passabler Rodney Hatch. Eine Verkörperung des Vororte-Amerikaners der 40-er Jahre, der sich seine Frau nur als Hausfrau und Mutter seiner Kinder vorstellen kann, die brav auf ihn wartet, bis er von der Arbeit nach Hause kommt.  Etwas fantasielos und naiv. Das Duett „Speak low“ (Rede leise) mit Venus, ein Evergreen, den u.a. auch Barbra Streisand eingesungen hat, geht in Ordnung, ist aber nicht der erwartete musikalische Höhepunkt des Abends. Wenn er seine Liebe zu Venus besingt, verwendet Rodney merkwürdige Bilder: Er liebt sie jedenfalls – so will es der für seine komischen Reime berühmt-berüchtigte Ogden Nash – mehr als ein Nagel schmerzt oder eine Grapefruit spritzt. Und man glaubt es ihm auch.

Whitelaw Savory, der Kunstkenner und überzeugte Verfechter der Avantgarde, der ein Wissen in Kursen an interessierte Leute weitergibt und die antike Venus-Statue nur besitzen will, weil sie ihn an seine Verflossene erinnert, ist mit Ivan Orescanin besetzt. Nach einem etwas mühsamen Beginn erreicht er in der Moritat vom Mörder Dr. Crippen seine Bestform: Das ist, wie von Weill intendiert, nicht vom Broadway inspiriert, sondern erinnert an die Moritaten aus der Zeit seiner Berliner Jahre mit Bert Brecht. Stilechter Brecht/Weill. Chapeau.

Seine Vertraute, Sekretärin und Beraterin, Molly Grant, ist die einzige, die durchschaut, dass die Frau, die die Welt durcheinanderwirbelt und fast auf den Kopf stellt, identisch mit der verschwundenen Venus-Statue ist. Monika Staszak macht ihre Sache gut, auch wenn sie von der Operette kommt und den Musical-Ton nicht ganz trifft.

Corina Koller und Regina Schörg sind als Rodneys Verlobte Gloria und deren Mutter schwer erträgliche, laute Karikaturen. Rodney muss Venus ewig dankbar sein, dass sie ihre Verbindung auseinandergebracht hat.

Das Erfreulichste an diesem Grazer Musicalabend ist das Orchester unter der Leitung von Marcus Merkel. Ob Broadway-Sound oder Berliner Dreigroschenoper-Anklänge, dieser amerikanische Kurt Weill mit all seinen stilprägenden Eigenheiten und von ihm selbst genial instrumentiert, wird von den Grazer Philhamonikern mit Verve und großem Können dargeboten. Das mitreißende Medley aus dem Vorspiel zum 2. Akt ist ein Hörerlebnis der Sonderklasse. Das allein schon wäre einen Besuch dieser Aufführungsserie wert.

Das ist gewiss nicht der perfekte Hauch von Venus. Kann es den überhaupt geben? Vermutlich nicht. Die rare Gelegenheit, nun – nach Lady in the Dark an der Volksoper – erstmals auch sein Musical One Touch of Venus kennenzulernen, sollte man sich – trotz aller Unvollkommenheiten in dieser Inszenierung – nicht entgehen lassen.

 

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