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GRAZ / Oper: KATJA KABANOVA – Premiere

Beschreibung einer Inszenierung mit (zu) vielen Um-, Zu und Überschreibungen

19.03.2023 | Oper in Österreich
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Marjukka Tepponen (Katja, Mitte) und Ensemble. Alle Fotos: Oper Graz / Werner Kmetitsch

GRAZ / Oper: KATJA KABANOVA – Premiere

18.März 2023

Von Manfred A. Schmid

Leos Janaceks 1921 in Brünn uraufgeführte Oper über eine unglücklich verheiratete, von sinnlichen Gelüsten und religiösen Überzeugungen hin und hergerissenen Frau, die sich, von ihrem auf einer Geschäftsreise befindlichen Mann allein gelassen, auf eine Affäre einlässt, ihren „Fehltritt“ der versammelten Dorfgemeinde beichtet und in den Fluten der Wolga den Tod sucht, wird in Graz in einer auf Sergio Morabitos legendärer „Stuttgarter Fassung“ aus dem Jahr 2010 beruhenden Inszenierung dargeboten. Die Regiearbeit von Anika Rutkofsky weicht von der von Morabito gemeinsam mit Jossie Wieler umgesetzten Vorlage aber in wesentlichen Punkten ab: Anders als in Stuttgart, wo die Handlung, wie im Libretto Janaceks vorgesehen, Ende des 19. Jahrhunderts spielt und keine direkten Aktualisierungen unternommen werden, verlegt Rutkowsky sie in ein russisches Dorf zur Zeit der Perestrojka, wenige Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion,  also wohl in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Die Einheitsbühne von Eleni Konstantatou ist eine Kirche, die während der Sowjetzeit zu einer Sporthalle mit Schwimmbad umgebaut worden war und jetzt wieder sowohl als Gebetshaus wie auch zur körperlichen Ertüchtigung dient. Zudem ist sie auch das Haus, wo Katja mit ihrem Mann Tichon unter der unerbittlichen Fuchtel seiner herrischen Mutter Kabanicha lebt. Das hellblau-grünlich gekachelte Schwimmbad muss im weiteren Verlauf auch als Garten, in dem sich die Verliebten des nachts vergnügen, herhalten und wird schließlich zur Wolga, aus der die ertrunken Katja gefischt wird, wie es das Libretto haben will. In Rutkofskys Inszenierung aber wird Katja von der herbeieilenden, empörten Menge mit Gebetbüchern (vielleicht auch nur im Nachhinein) erschlagen. Dasselbe Schicksal widerfährt – gemäß der Vorlage – auch ihrem Mann, der ebenfalls Seitensprünge zugibt. Bei Rutkofsky outet er sich zuvor allerdings als schwul, indem er seinem Freund Kuligin (verlässlich rollendeckend wie stets Martin Fournier) innig küsst.

Die komplexe Einheitsbühne erspart nicht nur aufwändige Szenenwechsel, sondern bildet eine Gesellschaft um Wandel ab. Es ist Umbruch mit Rück- und Fortschritten. Ein Systemwechsel scheint sich anzubahnen. Offen bleibt vorerst, wohin der Weg führen soll. Es dominiert das Chaos der Umschreibungen: Der Bademeister wird zum Priester Dikoj und zum heimlichen Geliebten der an Sado-Maso-Praktiken Vergnügen findenden Kabanicha, die Kassierin zur Messnerin und umgekehrt, die Badegäste zu Betern in der Kirche (Kostüme Maria Sturminger). Die angestrebte größere individuelle Freiheit ist weit weg. Noch dominieren patriarchalische Hierarchien, die Frömmigkeit der Gemeinde entlarvt sich als scheinheilig und heuchlerisch. Als sich Katja mit Boris im Garten trifft, ist das Drumherum eine einzige Sexparty mit diversesten Praktiken in allen Ecken, masturbierender Voyeur inbegriffen. Nur am nächsten Morgen will es keiner gewesen sein. Als sich Katja aber öffentlich dazu bekennt, ist das der Skandal.

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Wilfried Zelinka (Dikoj), Marjukka Tepponen (Katja) und Martin Fournier (Kuligin).

Diese nicht unbeträchtlichen Änderungen an der Vorlage eröffnen für die Regisseurin die Möglichkeit zu einer radikalen feministischen Umdeutung der Titelfigur. Katja – nachzulesen in dem Programmheft abgedruckten „Inszenierungskonzept“ der Dramaturgin Johanna Danhauser – entpuppt sich als Nymphe, wird zu einer Schwester der Undine, Melusine und Arielle. Diese mythische Umdeutung zu einem Wasserwesen leitet Danhauser u.a. aus der zentralen Rolle des Wassers in Janaceks Libretto-Fassung wie auch in dessen Musik ab. Eine Nymphe, so erfährt man, sei eine „Projektionsfigur männlicher Erzähle, die mit ihren Reizen stimuliert, doch keine autonome Lust erfahrend darf“. Danhauser vermutet, dass Katja „umgeben von Frauen, fast in einem friedlichen Matriarchat, aufgewachsen ist“, in der lieblosen Ehe mit Tichon dann allerlei patriarchale Demütigungen erfahren muss, die ihre Entfaltung behindern. Die Entdeckung ihres weiblichen Körpers in der Beziehung zu Boris führt dann zu einer „Lusterfahrung“, die Katja, die zuvor die Onanie noch als sündig befunden hat, „mit Leib und Seele berührt zu haben“ scheint. Es gelingt ihr, so Danhauser, „diese Lusterfahrung in ihren Glauben zu integrieren, auch wenn sie dafür gesellschaftlich sanktioniert wird“: „Als Nymphenfigur kehrt sie zurück ins Wasser, zu Mütterchen Wolga, das urweibliche Elemen.“ Johanna Danhausers Fazit: „Die Vulva schwillt an und sprengt den patriarchalen Raum.“ Das findet sich auf der Bühne auch tatsächlich und dominierend versinnbildlicht: Die Kirche hat einen trapez- bzw. v-förmigen Aus- und Eingang, mit heruntergelassenen Stoffbahnen drapiert, die diese Türe eindeutig als Vulva erscheinen lassen. Ganz oben ist ein Kreuz angebracht (Klitoris), und je nach Fortgang der Handlung leuchtet dieses Vulva-Tor in starken rötlichen Abstufungen, manchmal zart-lila und immer wieder auch grau und aschfahl (Licht: Hubert Schwaiger). Je nach Lust und Laune eben.

Diese beträchtlichen mythologischen, ideologisch-gesellschaftskritischen Anreicherungen der Geschichte sind, auch wenn etwas überzogen, durchaus nachvollziehbar, erweisen sich aber doch als Ballast. Zum Glück sind die Rollen aber darstellerisch so gut besetzt, dass man zwar manche dieser Zuschreibungen wahrnimmt, andere aber als irritierend bald zur Seite schiebt oder überhaupt einfach ignoriert. Ein Theater ist eben weder eine akademische Vorlesung noch eine seminaristische Gruppenübung.

Ganz und gar nicht akademisch, sondern voll im Dienste der großartigen, fesselnden Musik Janaceks sind die Grazer Philharmoniker, die unter der Leitung des Grazer Musikchefs Roland Kluttig das des Öfteren zu zerfasern und auseinanderfallen drohende  Geschehen auf der Bühne – wohl ein Abbild der gesellschaftlichen Zerwürfnisse –  kommentierend und illustrierend zusammenhalten.

Iris Vermillions Kabanicha ist eine die Gemeinde dominierende Herrin, die ihre Bösartigkeit gegenüber ihrer Schwiegertochter, die ewige Bevormundung ihres Sohnes Tichon sowie ihr eigenwilliges Sexualleben durch offen zur Schau getragene, gefakte Über-Religiösität übertüncht. Wenn ihr Sohn (Matthias Kozorowski) ihr am Schluss vorwirft, am Tod seiner Frau schuld zu sein, ist darin auch die späte Erkenntnis enthalten, dass auch er ein Opfer ihrer Kontrollmanie geworden ist, sich nie von ihr lösen konnte und daher auch nie den Mut aufbrachte, sich schützend vor seine Frau, die er irgendwie doch liebte und schätzte, zu stellen.

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Marjukka Tepponen (Katja) und Mareike Jankowski (Varvara).

Marjukka Tepponen braucht einige Zeit, bis sie aus dem Schatten ihrer übermächtigen Schwiegermutter lösen kann und beginnen kann, trotz vieler, auch innerer Zweifel und Barreren, an ihrer Selbstverwirklichung zu arbeiten. Wie sie am Schluss versucht, mit ihrer inneren Zerrissenheit – sinnliches Verlangen und Festhalten an überkommenen Rollen- und Moralvorstellungen – ins Reine zu kommen und, nachdem sie ihren Geliebten Boris nochmals gesehen hat, die Erlösung im Sprung in den Fluss zu suchen, ist ergreifend gespielt und gesungen.

Boris, der Mann, in den sich Katja sterblich verliebt hat (Arnold Rutkowski), nimmt die Warnungen, dass er mit dem Eingehen eines Liebesverhältnisses mit einer verheirateten Frau deren Tod in Kauf nehme, nicht ernst. Er, der ihr ewige Treue schwört, gesteht ihr, dass er, als ihre Affäre bekannt geworden ist, von seinem ihn gängelnden Onkel in die Verbannung nach Sibirien geschickt wird. Ihr Angebot, ihn zu begleiten, schlägt er, aus Angst vor seinem Onkel, ab. Der schmachtend flötende Liebhaber entpuppt sich als feige, willenlose, unzuverlässige Memme.

Zwei angenehme, sympathische und durchaus natürlich und gesellschaftlich nicht so leicht kaputtzumachende Menschen sind die in aufrichtiger, freudenvoller Liebe einander zugetanen Varvara (Mareike Jankowski als Katjas Schwägerin) und Kudrjasch (Mario Lerchenberger). Sie sind es, denen offenbar auch Leos Janacek mit viel Liebe gegenüberstand, denn sie sind die einzigen, die von ihm wunderschöne mährische Volksweisen in den Mund gelegt bekommen haben und diese auch selig erklingen lassen. Sie beschließen, nach den traurigem Geschehen den Ort zu verlassen, an dem die zurückgebliebene Bevölkerung vermutlich bis heute auf die von der Dramaturgin Danhauser verkündete Sprengung des patriarchalen Raums warten oder dies, was wahrscheinlicher ist, weiterhin fürchten, obwohl sie ohnehin in weitester Ferne liegen dürfte.

Ein Abend, der szenisch und botschaftsmäßig mehr wollte, als er letztlich einzulösen versteht, aber doch als sehr anregend und darstellerisch – musikalisch wie auch gesanglich – gut in Erinnerung bleibt und vom Premierenpublikum auch entsprechend beklatscht wird.

 

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