GRAZ / Oper Graz: LES CONTES D’HOFFMANN
5. November 2023
Von Manfred A. Schmid
Die Premiere Ende September, mit der Ulrich Lenz seine erste Saison als Grazer Intendant eröffnete, wurde von Presse und Publikum als großer Erfolg gefeiert. Auch die siebte Vorstellung von Les contes d’Hoffmann ist so gut wie ausverkauft. Offenbachs Opéra fantastique, in der der im Mittelpunkt stehende Dichter auf ein Ausleben seines leidenschaftlichen Triebes nach einer dauerhaften Beziehung zu einer Frau – nach drei traumatisch scheiternden Liebesgeschichten und auf Anraten seiner stets geheimnisvoll anwesenden Muse und seines Gefährten namens Nicklausse – zugunsten seines poetischen Schaffens verzichtet, hat auch in dieser Neuproduktion ihren Zauber nicht verloren. Hoffmanns Handlung ist das, was Sigmund Freud eine Sublimierung nennt: Der Vorgang der Modifikation von Triebenergie in künstlerisch-schöpferische, intellektuelle oder allgemeiner in gesellschaftlich anerkannte Interessen, Tätigkeiten und Produktionen. Die Grazer Inszenierung, die auf vier Regieteams aufgeteilt ist, verzichtet allerdings weitgehend auf eine psychoanalytische Deutung der Handlung, sondern setzt auf unterschiedliche ästhetische Herangehensweisen. Tobias Ribitzki, dem mit dem ersten und fünften Akt sozusagen die Rahmenhandlung anvertraut ist, begnügt sich mit der Herstellung der „Spielfläche“ für einen Dichter. Ein Tisch, ein Sessel, ein leeres Blatt Papier und ein Glas Wein genügen, damit der Dichter das Licht seiner Inspiration anknipsen und die Handlung beginnen kann, an dessen Ende die Versöhnung zwischen seiner triebhaften Natur und den kulturellen Anforderungen einer Gesellschaft stehen wird. Ein stetes Changieren zwischen Realität und Surrealem findet sch immerhin schon angedeutet.
Im folgende Olympia-Akt ist die Sopranistin nicht, wie üblich, dazu angehalten, sich als sich mechanisch bewegende Gliederpuppe zu gerieren, sondern Paul Barritt & Esme Appleton vom britischen Kreativteam 1927 bauen sie in eine großflächige, bunte, stets in Bewegung stehende Animation ein, auf der meist nur ihr Gesicht zu sehen ist. Der Rest – ihr Körper samt Gliedmaßen – ist reine Animation, was unglaublich wendig Abläufe ermöglicht. Auch Hoffmann, der sich in Olympia verliebt, wird zum Teil in das Geschehen als künstliche Figur eingebunden, wenn er nicht als, Beobachter mit einer Spezialbrille ausgestattet, Dinge zu sehen bekommt, von denen alle anderen nicht die leiseste Ahnung haben. Animation als Weiterentwicklung der uhrwerksbetriebenen Automaten-Technik ist eine reizvolle Erfahrung, die dem Publikum sichtlich gefällt, weil sie auch magisch und rätselhaft erscheint. Eine willkommene Abwechslung, auf Dauer aber doch etwas platt, denn vor der animierten Wand können sich die übrigen Beteiligten und der Chor nur rampentheatermäßig einbringen.
Eine Enttäuschung ist der Antonia-Akt, in dem klappmaulartige Puppen das Geschehen optisch dominieren. Neville Tranter, seit 40 Jahren als genialer Puppenspieler gefragt, kann nicht weismachen, welchen Mehrwert er durch die Einführung seiner eher abstoßend wirkenden Puppen, die von den jeweiligen Sängerinnen und Sängern und je einer weiteren Person bedient werden, zu bieten hat. Wären sie Antonia, Hoffmann oder Nicklausse zugeteilt, könnte das deren psychischen Zwänge offenbaren. Aber sie betreffen nur Nebenfiguren sowie eine eigens und zu allem Überfluss neu eingeführten Figur und machen das tragische Geschehen rund um die todkranke Antonia,, die aus gesundheitlichen Gründen nicht singend dürften, zu einer schaurigen Groteske, mit einem total verhauten Auftritt ihrer verstorbenen Mutter. Wozu das Ganze? Im Programmheft schreibt Tranter: „Es ist meine Aufgabe, dass das Publikum an Ende nicht mehr zwischen Mensch und Puppe unterscheiden, sondern deren Geschichte und den Charakteren folgt und somit total an die Puppen glauben.“ Aha. Bestätigt die Vermutung, dass derzeit auf den Opern- und Theaterbühnen der Welt einfach zu viele Puppen herumgeistern, auch dort, wo sie nichts verloren haben.
Überzeugender gelingt Nanine Linning die Gestaltung des in Venedig spielenden Giulietta-Akts. Sie kommt ohne Andeutung venezianischer Silhouetten und Gondeln aus, aber der dunkelblau gekleidete Chor (Kostüme Irina Shaposhnikova) ist ständig in duckender, vor- und rückwärts ausufernder Bewegung: Das Gewoge und die Wellen des Canal Grande sind also da, ebenso ein riesiger dreidimensionaler Spiegel (Bühne Stefan Rieckhoff), der das unheimliche Geschehen reflektiert und konserviert. Man begreift, warum Hoffmann, begleitet von Nicklaussem hals über kopf die Flucht ergreift, um in den Armen der Muse im letzten Akt sein Heil zu finden. Warum die „Diamanten-Arie“ gestrichen wurde, ist unergründlich. Dass sie mit Sicherheit nicht von Offenbach stammt, wäre angesichts der schwierigen Fertigstellung der von ihm als Torso hinterlassenen Oper eigentlich kein triftiger Grund.
Inszenatorisch hat dieser Grazer Neuproduktion jedenfalls viel Neues und Ungewohntes zu bieten. Nicht alles ist geglückt, bietet aber insgesamt mit anregenden regielichen Ideen und phantasievollen Umsetzungen ein sehenswertes buntes Kaleidoskop. Musikalisch gibt es kaum etwas auszusetzen und viel zu loben, angefangen bei den – unter der Leitung von Johannes Braun – prächtig aufspielenden Grazer Philharmonikern, dem stimmstarken und spielfreudigen Chor und Extrachor der Oper Graz und dem großartigen, hauseigenen (!) Ensemble in so gu wie allen Rollen.
Matthias Koziorowski als imponierender Hoffmann absolviert seinen ungemein fordernden Part mit Bravour. Gegen Schluss hin sind bei einigen hohen Tönen leichte Ermüdungserscheinungen zu registrieren, aber der ebenso kraftvolle wie auch einschmeichelnde Tenor ist und bleibt der glänzende Mittelpunkt der Aufführung.
In der Doppelrolle als Muse und Nicklausse ist die Mezzosopranistin Anna Brull gesanglich und darstellerisch so präsent, dass sie die drei Soprane, die den zweiten, dritten du vierten Akt prägen, zuweilen in den Schatten stellt.
Aber auch Tetiana Zhuravel kann mit den makellosen Koloraturläufen der Olympia ebenso punkten wie Tetiana Miyus als schwermütige und lebenshungrige Antonia. In ihrer Arie „Elle a fui, la tourterelle“ weiß sie zu berühren, glänzt aber auch im Duett mit Hoffmann, in dem sie ihre Liebe nach längerer Trennung wiederaufleben lassen.
Mareike Jankowski ist in der „Barcarole“, im Duett mit Anna Brull, zunächst etwas zu verhalten und droht von den Holzbläsern übertönt zu werden, ist in weiterer Folge aber eine einnehmende, geheimnisumwitterte Kurtisane, die Hoffmann in einen heikle. lebensgefährliche Lage hineinmanövriert.
Der facettenreiche, farbkräftige Bariton Petr Sokolov stattet dank seiner gestalterischen Fähigkeit die Rollen der Bösewichte Lindorf, Coppélius, Dapertuto und Le docteur Miracle mit den nötigen perfiden Profilen aus und agiert als umtriebiger Störefried auf Augenhöhe mit Hoffmann, dem Opfer seiner unseligen Aktionen.
In weiteren Rollen zeichnen sich u.a. der für Komik sorgende Martin Fournier als Andrès, Cochenille, Pottinaccio und Frantz, Daheo Kim als Maitre Luther und Crespel sowie Mario Lerchenberger als Nathanael und Spalanzani aus.
Das sichtlich hingerissene Publikum bedankt sich mit starkem, lang anhaltendem Beifall.