GRAZ / Oper: DIE PERLENFISCHER / LES PECHEURS DE PERLES von Georges Bizet
Premiere
17. Dezember 2021
Von Manfred A. Schmid
Die vom 24-jährigen Georges Bizet komponierte Oper wurde bei der Uraufführung 1863 wenig geschätzt, bald vergessen und nach dem Tod des Komponisten erst langsam wiederentdeckt. Dass sie sich bis heute nicht auf Dauer in den Spielplänen etablieren konnte, liegt vor allem am unfertig und roh wirkenden Libretto, das einer gelungenen Umsetzung auf der Bühne im Wege steht. Der Überlieferung nach sollen sich dessen Schöpfer – das eigentlich erfahrene und erfolgreiche Duo Michel Carré und Eugéne Cormon – mit einigem Erschrecken darüber gewundert haben, wieviel gute Musik Georges Bizet zu ihrem in aller Eile und ohne Bedacht zusammengeschusterten Textbuch eingefallen sei.
Das in Graz angetretene Regie-Duo Ben Baur & Beate Vollack vermeidet eine romantisierende Inszenierung der im vorkolonialen Ceylon (heute Sri Lanka) spielenden und tragisch endenden Liebesgeschichte des Jägers Nadir zur Tempeljungfrau Leila. Deren Liebe steht im Schatten der Freundschaft, die Nadir mit dem zum Dorfkaziken aufgestiegenen Zurga verbindet. Um diese im berühmten Duett „Au fond du temple saint“ beschworene Freundschaft nicht zu gefährden, haben Nadir und Zurga einst gelobt, dass keiner mit Leila eine Verbindung eingehen werde. Als Leila nach Jahren wieder auf die Insel zurückkehrt, entbrennt Nadir erneut in rasender Leidenschaft zu ihr. Auch sie bricht schließlich ihr Keuschheitsgelübde als Tempeljungfrau. Das darob erzürnte Volk fordert Sühne, der wegen des doppelten Treuebruchs erzürnte und eifersüchtige Zurga beschließt ihre Hinrichtung, zeigt aber in letzter Minute Verständnis, vergibt ihnen, entlässt sie in Freiheit und bleibt allein zurück. So das Libretto. Doch die Regisseure vertrauen nicht auf die ausdrucksstarke Wirkung des einsam und verlassen, verzweifelt und irgendwie auch großmütig dastehenden Zurga, der am Schluss allein auf der Bühne verharrt. In Graz wird Zurga vom wütenden Mob erstochen. Und das gleich mehrmals, von vorne, von hinten und von der Seite. Und die Erschütterung und Trauer, aber auch Dankbarkeit ausstrahlende Musik Bizets spielt dazu.
Gewalt und Angst, Furcht vor den Göttern und die ständige Bedrohung durch Sturm und gefährliche Wellenberge prägen in dieser Inszenierung den Gesamtverlauf der Handlung und das Leben der Inselbewohner. Der Chor, bestens vorbereitet von Bernhard Schneider, fordert zwar die jungen Mädchen dazu auf, mit wehenden Haaren zu tanzen, um die erzürnten Götter zu besänftigen, aber zu sehen bekommt man nur müde, unterdrückte und mit geduckten Köpfen dahinschleichende Gestalten. Ein einziger, von Co-Regisseurin Beate Vollack choreographierter Trauermarsch. Die düstere Atmosphäre wird weiters durch die Einführung von drei alten, gebrechlichen Hexen (der Ältestenrat?) unterstrichen, die immer wieder, mühsam am Zahnfleisch bzw. an steckenartigen Krücken einher stolpernd, auftreten, aber kräftig genug sind, um junge Männer im 2. Akt ohne ersichtlichen Grund heftig abzuwatschen. Eine unmotivierte, lächerlich wirkende und ratlos machende Ohrfeigenorgie. Wenn im Morgengrauen (Bühne Co-Regisseur Ben Baur) die anstehende Hinrichtung der beiden Übeltäter vorbereitet wird, schmieren sich die jungen Männer mit Blut voll. Stirn, Arme und Brust. Ein Blutbad-Ritual. Dann tritt auch der Gemeindältste Nourabad hervor, mit einem Gerippe in den Händen, und zuvor schon kreist ein Falke, mittels eines langen Stabs hochgestreckt, über der Menge. Ein Gruselkabinett. Auch eine Taube gibt es, der von Zurga im Blutrausch der Hals umgedreht wird. Außerdem ziert das riesengroße Bild einer Taube den Bühnenvorhang. Die Liebe? Die Freundschaft? Man weiß es nicht. Versatzstücke aus der Kiste des Regietheaters, aber ohne eine zwingende Gesamtidee. Etwa so, wie sich der kleine Max Regietheater vorstellt.
Die Absicht dieser Inszenierung, eine archaische Gesellschaft zu zeigen, wirkt plump und unbeholfen umgesetzt und überzeugt nicht. Eine in idyllischen Verhältnis lebende Schar von Menschen auf die Bühne zu stellen und damit das Bild der glücklichen „edlen Wilden“ zu propagieren, wäre angesichts der späteren kolonialen Vergangenheit zu Recht verpönt und wird hier auch nicht umgesetzt. Aber stattdessen ein im Bann von permanenter Gefährdung und Angst lebendes Volk vorzuführen, das – weiter gedacht – auf seine Erlösung durch die „Entdeckung“ durch christliche Eroberer und abendländischen Zivilisationsbringer wartet, ist keine Alternative.
Gesungen wird auf Französisch, es gibt deutsche Übertitel. Die musikalische Leitung liegt in den Händen von Marcus Merkel, der am Pult der Grazer Philharmoniker die mit fernöstliche, Elementen gewürzte Musik Bizets filmmusikartig zum Klingen bringt und dabei das Auf und Ab des Geschehens rhythmisch und melodisch widerspiegelt: Das Tosen der entfesselten Naturgewalten, die starken Emotionen und die leidenschaftlichen Gefühlsausbrüche. Zu erwähnen in diesem Zusammenhang die Szene, als auf der Bühne der in vier Gruppen aufgeteilte Chor beim Beschwören des herannahenden Unwetters die Wogen des Meeres in rhythmischen Bewegungen nachvollzieht, Der gelungenste Moment des Abends und eine choreographische Glanznummer.
Nicht ganz so glanzvoll fällt die Gesangsleistung von Dariusz Perczak auf, der als Zurga, auch in der Mittellage und nicht nur bei den hohen Tönen, stark distoniert. Das langjährige Ensemblemitglied muss einen besonders schlechten Tag erwischt haben. Man hätte den Bariton wohl als indisponiert ansagen müssen.
Zurgas Freund und Rivale Nadir wird von Andrzej Lampert mit entschieden mehr Fortüne dargestellt. Sein höhensicherer, heller Tenor blüht in der Arie „Je crois entendre encore“ so richtig auf und wird begeistert beklatscht – nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil vielen im Publikum diese Arie bekannt vorkommt, gehört sie, neben dem bereits erwähnten Freundschaftsduett, doch zu Recht zu den beliebtesten Melodien Bizets und ist deshalb oft in Konzerten hören.
Erfreulich auch Tetjana Miyus als Leila, die aufgrund ihres sicher geführten Soprans keine Höhenangst haben muss, gewiss aber auch psychisch keine Höhenangst hat, wenn sie beim inbrünstigen Singen ihrer Arie „Oh Dieu Brahma“ hoch oben auf einer Klippe steht.
Der Bassist Daeho Kim wirkt als ernsthafter, Autorität ausstrahlender Gemeindeältester Nourabad eher wie ein Oberpriester. Würdevoll und Angst gebietend.
Am Ende viel Applaus. Dem Publikum hat die neue Opern-Bekanntschaft offensichtlich gefallen. Dass da, wie derzeit überall, wohl auch die Erleichterung und Freude mitspielen, wieder tatsächlich „live“ dabei sein zu können, ist ein weiterer Grund. Manch einer denkt vielleicht auch an die großartig schräge Dschungelcamp- Version von Bizets Die Perlenfischer 2014 am Theater an der Wien, in der burlesken Regie von Lotte de Beer. Aber das ist eine andere Geschichte.
18. 12. 2021