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GRAZ / Oper: ANATEVKA (FIDDLER ON THE ROOF) von Joseph Stein/Jerry Bock

Ein Koffer- voll einer längst verlorengegangenen Welt

18.10.2020 | Operette/Musical

Der Koffer birgt eine ganze Welt. Alle Fotos: Oper Graz / Werner Kmetitsch

GRAZ / Oper: ANATEVKA (FIDDLER ON THE ROOF) von Joseph Stein und Jerry Bock

Premiere

17. Oktober 2020

Von Manfred A. Schmid

Das kleine Schtetl Anatevka und seine Bewohner dienen im gleichnamigen Musical von Joseph Stein und Jerry Bock als Beispiel für die Existenz bedrohenden Veränderungen, mit denen sich eine jüdische Siedlung in der Ukraine um 1900 konfrontiert sieht. Im Mittelpunkt steht der Milchmann Tevje, der den sich brutal ankündigenden, unaufhaltsamen Wandel auch in der eigenen Familie hautnah erleben muss. Das traute Leben im Schtetl wird zunehmend bedroht, es kommt zu ersten pogromartigen Zwischenfällen, bis schließlich die Bevölkerung aufgefordert wird, binnen drei Tagen ihr Heim zu verlassen und woanders eine Bleibe zu suchen. Immer an ihrer Seite ist der Fiedler auf dem Dach, dem das Stück nach Geschichten von Scholem Alejchem seinen Originaltitel – Fiddler on the Roof – verdankt. Er wird seine Leute weiter auf ihrem Weg in eine mehr als ungewisse Zukunft begleiten.

Anatevka steht also für das Schicksal ostjüdischer Siedlungen. Aufbruch aus einem Dorf, in dem man mehrere Generationen hindurch vermeintliche Sicherheit und Geborgenheit gefunden zu haben glaubte. Dass auch in der Grazer Neuproduktion des 1964 in New York uraufgeführten Musicals die obligaten Koffer als Symbol des unbeständigen Lebens in der Diaspora strapaziert werden, kommt daher wenig überraschend, zählen Koffer doch schon seit Jahren zum Hauptinventar bei der Inszenierung von Stücken mit jüdischem Background. In diesem Fall ist der Einsatz jedoch bemerkenswert zugespitzt und effektvoll: Ein riesiger Koffer – Bühne und Kostüme stammen von Okarina Peter &Timo Dentler – dominiert die Bühne, obenauf der Fiddler (Alexander Stock), der die sehnsuchtsvoll verträumte Kernmelodie intoniert. Der Koffer klappt auf, öffnet sich. Man sieht zunächst alle Bewohner Anatevkas, eng zusammengedrängt, wie auf einer vergilbten, braunstichigen Fotografie. Dann treten nach und nach hervor, und das gewohnte Alltagsleben nimmt – in der „menschelnden“, aber niemals zu kitschigen, sondern mit feinem Humor versehenen Regie von Christian Thausing – seinen Lauf.

 Ivan Orescanin ist ein sympathischer Tevje, der mit seinem Schicksal und mit Gott hadert, aber niemals verzweifelt, sondern an die Sinnhaftigkeit seines Lebens festhält, auch wenn er miterleben muss, wie seine drei Töchter im heiratsfähigen Alter nach und nach mit der im Chor leitmotivisch immer wieder beschworenen „Tradition“ brechen: Eine, die älteste Tochter Zeitel, heiratet aus Liebe und nicht nach dem Vorschlag der Heiratsvermittlerin,  die andere, Hodel, geht mit dem politisch engagierten, von der zaristischen Polizei als Umstürzler verfolgten Lehrer Perchik nach Kiew, und Chava brennt mit dem Russen Fedja durch, nicht ohne sich zuvor mit ihm vom Popen trauen zu lassen. Was ihr Vater, der zuvor alle Regelverstöße doch noch irgendwie akzeptiert hat, dann doch nicht mehr ertragen kann. Man hat schon vitalere Tevjes auf der Bühne erlebt, zuletzt etwa Kurt Rydl an der Wiener Volksoper. Aber ein etwas filigranerer, aber herzlicher und lernbereiter, sensibler Milchmann kann auch überzeugen. Man erinnert sich z.B. an die Darstellung durch Adi Hirschall, ebenfalls an der Volksoper. Das vielseitig einsetzbare Ensemblemitglied – Orescanin ist auch ein geschätzter Bariton im Opernfach – bringt jedenfalls eine fein austarierte Charakterstudie auf die Bühne. Seine eigenwillige Interpretation von „Wenn ich einmal reich wär“ ist zunächst zwar etwas gewöhnungsbedürftig, wenn er das „Diwi-diwi, diwi-diwi, diwi-diwi, diwi-dum“ gähnend intoniert und damit keinerlei Entschlossenheit signalisiert. Wenn er damit aber unterstreicht, dass er ohnehin nicht daran glaubt, dass dieser Traum jemals wahr werden könnte, dann hat auch das seine Berechtigung.

Ivan Orescanin (Tevje) und Susan Rigava-Dumas (Golde) im Duett „Ist das Liebe?“.

Auf der Opernbühne wie im Musical zu Hause ist Susan Rigvava-Dumas als Golde. Für die Rolle der resoluten, praktisch veranlagten, Ehefrau Tevjes bringt die aus Holland stammende Sängerin viele Voraussetzungen mit. Dass Golde aber auch eine typische jüdische Mame mit fürsorgender Herzlichkeit ist, bleibt da irgendwie auf der Strecke. Sie wirkt vielmehr wie eine Dame der höheren Gesellschaft, die sich, aus einer Operette kommend, in ein Musical verirrt hat. Im Duett „Ist es Liebe?“ gelingt ihr an der Seite von Orescanin dennoch eine der berührendsten Schlüsselszene des Werks.

Etwas zu „operettig“ mag einem zunächst auch Sieglinde Feldhofers Auftritt als Tochter Hodel erscheinen. Ihre innige Interpretation passt aber tatsächlich hervorragend zu ihrem Lied „Fort aus dem Elternhaus“, in dem sie ihrem Vater die Gründe erklärt, warum sie dem Lehrer Perchick nach Sibirien folgen muss und dabei in Kauf nimmt, ihre Eltern und Geschwister vielleicht nie wieder zu sehen. Benjamin Plautz macht als ihr Geliebter darstellerisch gute Figur. Ein an die Veränderung der Gesellschaft glaubender und sie aktiv vorantreibender junger Mann, von manchen Anatevkanern als „Anarchist“ gefürchtet und abgestempelt. In einer herrlichen Szene bei der Hochzeit Zeitels mit dem Schneider Mottel (eindrucksvoll seine Schüchternheit überwindend Matthias Störmer) bringt er es zustande, dass ganz Anatevka die traditionell strikte Geschlechtertrennung beim Tanz aufgibt und sich ausgelassenen Paartänzen hingibt. Gesanglich macht die dünne Stimme von Plautz eigentlich nicht viel her, er kann aber in „Nun hab‘ ich, was ich will“ trotzdem durch brüchige Zartheit begeistern.

Eva-Maria Schmid ist eine gute Besetzung für die Rolle der Chava, der mutigsten unter ihren Geschwistern. Indem sie sich mit einem Nichtjuden verbindet, begeht sie den radikalsten Bruch mit der Tradition. Mario Lerchenbergers Auftritte als ihr Bräutigam Fedja sind kurz und prägnant, während Uschi Plautz als geschäfts- und tratschsüchtige Heiratsvermittlerin Jente alle Register der Komödiantik zieht und sich gemeinsam mit Tevje wie ein roter Faden quirlig durch die Handlung zieht.

Ivan Orescanin (Tevje) und Sieglinde Feldhofer (Hodel).

Aus der Schar der Bewohnern Anatevkas hervorzuheben sind weiters Thomas Essl als in seiner Ehre gekränkter Fleischhauer Lazar Wolf, Johann Wolfgang Lampl als Wachtmeister und David McShane als Rabbi sowie die Tänzer mit ihren artistischen Einlagen als Höhepunkte des Hochzeitsfests (Choreographie Evamaria Mayer). Beim Hochzeitsfest zeigt sich Anatevka bereits in Auflösung begriffen: Die Rückwand des Koffers ist weggebrochen. Man kann man das bunte Treiben zunächst, bevor sich die Bühne dreht, nur durch einen Schleier wahrnehmen.  Ein Hinweis auf die dabei zu konstatierenden Traditionsbrüche: Gebrochenes Hochzeitsversprechen, Liebesheirat sowie – als Gipfelpunkt – die unerhörte, ungehörige Tanzerei. Am Schluss, als vom Chor das Ende Anatevkas und der Abschied verkündet wird, ist der Koffer, der die Bewohner so lange zusammengehalten und ihnen einen Rahmen und damit Geborgenheit verliehen hat, längst zur traurigen Ruine geworden.

Durch die exzellente Personenführung durch die Regie ist die Handlung – trotz der Fülle von Personen auf der Bühne – stets transparent und nachvollziehbar. In der Gestaltung der Traumsequenz, in der Tevje seiner Golde weismachen will, warum er von seinem gegenüber dem Fleischhauer gegebenen Versprechen – mit Verweis auf die eindringliche Warnung der verstorbenen Oma Zettel, die mit großem Gefolge in Erscheinung tritt – abrücken muss, wird vielleicht ein bisschen arg überzeichnet. Nicht ganz geklärt ist auch die sprachliche Ebene in dieser Inszenierung, da hätte man wohl an einer homogeneren Sprechweise feilen können. Die musikalische Gestaltung unter der Leitung von Marius Burkert ist solide wie die ganze Aufführung. Nicht spektakulär, aber in der gut bespielbaren und gut genützten Bühne kann man immerhin einen Ansatz zu einer eigenständigen Interpretation des vielgespielten Musicals erkennen. In einer Woche feiert Anatevka übrigens an der Bühne Baden eine weitere Premiere. Mal sehen, wie diese ausfallen wird.

18.10.2020

 

 

 

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