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GRAZ / Helmut List Halle: „HAGAR UND ISMAEL“ von Alessandro Scarlatti beim Osterfestival PSALM 2019

Die Zerreißprobe für Abraham

15.04.2019 | Oper

Bildergebnis für hagar und ismael

GRAZ / Helmut List Halle: Alessandro Scarlattis Oratorium „HAGAR UND ISMAEL“ beim Osterfestival PSALM 2019

Die Zerreißprobe für Abraham

14.4. 2019 – Karl Masek

Osterzeit ist Festspielzeit. Man prunkt mit repräsentativer Oper. Von Salzburg bis Baden Baden. Man präsentiert Superstars am Dirigentenpult und auf der Bühne. Von Wagner (Meistersinger) bis Verdi (Otello). Hochkultur in Breitwand und Hochglanz. Traditionen werden abgefeiert. Und klar: Zu Ostern muss Parsifal sein. In so ziemlich allen Opern-Metropolen (auch Erl kommt noch).

Graz ist ein bisschen anders. Hier gibt es: „PSALM“. Mit einem Gesamtkonzept, einer inhaltlichen Klammer. Einem Übertitel. Man ist am Pulsschlag der Zeit. Kunst hat hier gesellschaftliche Relevanz, ist nachdenklich. Weit über Feiertagsglanz hinaus. „EXIL“ ist für 2019 der Übertitel.

„Warum verlassen Menschen ihre Heimat?  Oft ist es Krieg, oft Verzweiflung. Sie wurden/werden  verjagt, verstoßen, müssen ins Exil (wenn das noch gelingt). Manchmal gelang/gelingt es dann sogar, aus der Kunst Kraft für ein neues Leben zu schöpfen.“, so die Verantwortlichen für PSALM.

Schon das Alte Testament ist voll von Geschichten, in denen es um Vertreibung und Exil geht. Auch das 1. Oratorium des damals 22-jährigen, in Palermo geborenen, Alessandro Scarlatti  (1660-1725) handelt in 2 Teilen davon. Es geht um die Zerreißprobe Abrahams zwischen 2 Frauen (Sara und Hagar) und 2 spätgeborenen Söhnen (Ismael und Isaac, letzterer kommt im Oratorium nicht vor). Sara, Abrahams ‚Erstfrau‘ bietet alles auf, um Abrahams ‚Zweitfrau‘ Hagar mit ihrem Sohn Ismael (dieser wurde noch vor Isaac geboren, und Sara wie Abraham waren bei der Geburt des Ismael bereits im Greisenalter – kurios mutet manches in der Genesis an! –  ) zu vertreiben. Sprichwörtlich in die Wüste zu schicken.

Im 2. Teil des Oratoriums schildert Scarlatti mit beklemmendem Ausdruck und für die Barockzeit un-erhört anmutendem Verismo die Qualen der in der Wüste umherirrenden Protagonisten Hagar und Ismael.  Jahrzehntelang vor dem beginnenden Siegeszug von Händels Opern und Oratorien  mit genial komponierten, aber oft im vorhersehbaren Ablauf zwischen schematischen Dacapo-Arien und Rezitativen wechselnden Nummern,  fesselt Scarlatti mit kühner Erneuerung einer psychologisch durchdrungenen Tonsprache voll überraschender Wendungen und Modulationen. Dissonante Reibungen gibt es, dann wieder blühende Melodik. Diese mutiert, wenn der Knabe Ismael zu verdursten droht, zu einer dehydrierten minimal music, wie sie erst wieder im 20. Jht. auftaucht. Da droht das junge Leben des vielleicht 13-, 14 Jährigen zwischen „Speranze…“ (Hoffnungen) und „Ia  vita cadente“ zu verlöschen. Fata Morganas, Halluzinationen, werden hier mitkomponiert: Das Publikum ist gebannt, scheint aufs Atmen fast zu vergessen …

Wie der junge deutsche Sopranist Philipp Mathmann  diese immer kurzatmiger und erschöpfter werdenden Rezitative und Arien bis zum Verlöschen, bis zum Verstummen, singt, gestaltet, durchleidet, gehört in seiner Introvertiertheit, ohne jede äußerliche Theatralik, zum Berührendsten, Wahrhaftigsten, was seit langer Zeit bei Barockmusik zu erleben war. Die Stimme eines, der als Bariton begonnen hat: Knabenhaft hell dieses Kopfregister, zugleich in den Farben fein schimmernd und mit reich differenziertem Ausdruck. Dazu immer wieder beredt angedeutetes Spiel mit glaubhafter Körpersprache eines noch ganz jungen Menschen. Vor wenigen Wochen ließ er im Theater an der Wien in Vivaldis „Orlando furioso“ aufhorchen. Das hier war die Visitenkarte eines, dem man nach diesem Abend eine große Zukunft in der Alten Musik prophezeien mag. Aber auch sonst müsste man sich um den approbierten Sänger-Arzt (Fachrichtung HNO!) wohl keine Sorgen machen!

Der deutsche Mezzosopran Franziska Gottwald gibt der Hagar alle Nuancen der Fürsorglichkeit, des Trostes, der Verzweiflung, der Stimmungsschwankungen, der Verbitterung („Sara, du hast gewonnen…“), wenn sie meint, nur mehr ihr eigen Blut (in Ermangelung jeglichen Wassers) könne Ismael retten. Sie meistert eine Rolle, tendenziell in einer Kontraalt-Lage, die ihr eigentlich zu tief liegt, sehr respektabel.

Ein genialer Trick Scarlattis war es, dass die böse Sara am Schluss des Oratoriums zum Engel wird, der Ismael in bester barocker lieto fine-Manier  das Leben rettet. Mit „É  folle  chi  paventa eterno  il  suo  dolor“ (Verrückt ist, wer seinen Schmerz für ewig hält) singt sie die Schlusswendung, wie sie einem barocken Oratorium eigen ist. Der französische Sopran Claire Lefilliâtre singt ihre beiden Rollen mit all der Erfahrung, die sie mit Gesang, Schauspiel und barocker Gestik gemacht hat.

Dass es auch sehr um Abraham geht in diesem Oratorium, macht Jochen Kupfer  deutlich. Der aus Grimma/Sachsen stammende, unverkennbar in Leipzig ausgebildete Bass-Bariton (ich sage nur: Stilkundigkeit und  Wortdeutlichkeit!) bleibt auch in der umfänglich geringsten Partie im Zentrum des Geschehens.


Hofkapelle. Foto: Mathias Kniepeiss

Die Besprechung darf nicht enden, ohne die Neue Hofkapelle Graz gebührend gewürdigt zu haben. In Graz wird man sich glücklich schätzen, ein solch tolles, quirlig-temperamentvolles  Ensemble für Renaissance- und Barockmusik bis hin zur Avantgarde, vor Ort zu haben. Angeführt wird es von der Violinistin Lucia Froihofer und dem Cembalisten, Blockflötisten und Organisten  Michael Hell. Zwei wunderbaren Erzmusikant/innen, vor denen sich der Rezensent verneigt.


Copyright: Andy Joe

6  Veranstaltungen bietet PSALM noch bis Ostermontag: „Die blühende Rose“, Lieder in sephardischer Tradition; u.a. mit Arianna Savall, der Tochter des legendären Jordi Savall; „Lieder der Hoffnung“ (Lieder aus Exil und Rückkehr);  „Chopin im Exil“; „Die Königinnen von Rom“ (Christina von Schweden & Kasimira von Polen) mit Musik von Corelli bis Scarlatti; „El Camino a la libertad“ (Der Weg in die Freiheit, musikalisch begleitet von Liedern und Tänzen Lateinamerikas); „Robert Stolz – A Night in Vienna“ –  ein nachgestelltes Konzert vom Mai 1943 in der New Yorker Carnegie Hall.

Volles Haus bei der Eröffnung; ausdauernd beklatscht und stürmisch bejubelt!

Chapeau!

Karl Masek

 

 

 

 

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