Graz: „DORNRÖSCHEN“ – Oper, konzertant am 31.10. 2015
Tatjana Miyus. Foto: Werner Kmetitsch/ Oper Graz
Nach dem Tod von Richard Wagner versuchten die Opernkomponisten neue Wege zu beschreiten. Engelbert Humperdinck (1854-1921), der ein glühender Wagnerianer war und dem Meister selbst bei den Vorbereitungen zur Uraufführung des „Parsifal“ in Bayreuth assistieren durfte, tat dies zunächst mit „Hänsel und Gretel“. Er komponierte ein häusliches Singspiel auf einen Text seiner Schwester Adelheid Wette, zunächst nur vom Klavier begleitet. Später arbeitete er diese Version in eine leitmotivisch gefügte, durchkomponierte Oper in symphonischem Gewand um. In dieser Version erlebte das Werk am 23. Dezember 1893 in Weimar seine Uraufführung und wurde ein Welterfolg. Dirigent dieser Uraufführung war übrigens kein Geringerer als Richard Strauss. Humperdinck hat übrigens noch mehr Märchenopern auf Texte seiner Schwester komponiert, so „Schneewittchen“ (1888) und „Die sieben Geißlein“ (1895). Ebenfalls großen Erfolg konnte er dann mit der Oper „Königskinder“ erringen. Das Libretto von Elsa Bernstein-Porges hat Humperdinck zunächst als Melodram vertont. Speziell für dieses Werk hat Humperdinck die Kreuznotenschrift entwickelt, die den Rhythmus und die ungefähre Tonhöhe der Sprechstimme über der Orchesterbegleitung festlegt. Diese neuartige Kompositionstechnik wurde dann von vielen Komponisten übernommen und z.B. von Arnold Schönberg weiterentwickelt (diesbezüglich ist wohl dessen „Pierrot Lunaire“ als Höhepunkt dieser Gattung anzusehen). Später arbeitete Humperdinck die „Königskinder“ im Auftrag der Metropolitan Opera zur durchkomponierten Oper um. Die Uraufführung des symbolbeladenen und tragischen Musikdramas am 28. Dezember 1910 in New York mit Geraldine Farrar als Gänsemagd, Hermann Jadlowker als Königssohn und Louise Homer als Hexe geriet für den anwesenden Komponisten zum Triumph. Noch während der Arbeit an der Urfassung der „Königskinder“ wurde Humperdinck das Textbuch zu „Dornröschen“ von der Jugendbuchautorin Elisabeth Ebeling angeboten. Humperdinck war zunächst nicht begeistert vom Libretto, aber nach seiner Berufung an die Königliche Akademie der Künste in Berlin überließ ihm Elisabeth Ebeling ihre Villa in Wannsee; dadurch sah sich Humperdinck schließlich verpflichtet das Textbuch seiner Gönnerin nach etlichen Abänderungen (unter Mitarbeit von Bertha Lehmann-Filhés, einer Freundin der Autorin) zu vertonen.
Die beiden Textbuchautorinnen orientierten sich zunächst nahe am Märchen der Gebrüder Grimm, wonach Röschen, die frisch geborene Tochter des Königs, von der zur Taufe nicht eingeladenen bösen Fee Dämonia verdammt wurde sich an ihrem 15. Geburtstag an einer Spindel zu stechen und zu sterben. Da eine Fee ihr Patengeschenk noch nicht verteilt hatte, wandelte die Fee diesen Fluch dahingehend um, dass Röschen nicht sterben, sondern in einen hundertjährigen Schlaf versinken soll, aus dem sie nur ein „Jüngling kühn und rein“ erwecken darf. Diese Handlung wurde nun von den Librettistinnen dahingehend ergänzt, dass 100 Jahre später der Urenkel des ursprünglichen Bräutigams, der wie sein Urgroßvater Reinhold heißt, von dieser Geschichte hört, sich entschließt Dornröschen zu erwecken, dazu aber einige Prüfungen zu bestehen hat, zur Sonne, zum Mond und zu den Sternen reisen muss sowie ins unterirdische Reich der Zwerge, wo er schließlich die zwei verlorenen Verlobungsringe findet und dann noch den Verführungskünsten der bösen Fee Dämonia und ihrer Blumenmädchen (Nymphen und Najaden) widerstehen muss. Selbstverständlich bleibt der junge Prinz standhaft und tötet im Duell Dämonia, bevor er die Schlafende wachküssen und als Braut gewinnen kann. („Siegfried“, „Rheingold“ und „Parsifal“ lassen grüßen.)
Noch lange vor der Uraufführung, die am 12. November 1902 in Frankfurt a.M. stattfand, veröffentlichte Humperdinck eine fünfsätzige Suite unter dem Titel „Tonbilder aus Dörnröschen“ (im Juni 1902 in Krefeld uraufgeführt), die fünf große symphonische Teile der Oper (Vorspiel, Ballade, Irrfahrten, Das Dornenschloss, Festklänge) enthält. Die Oper wurde bei der Uraufführung nicht nur positiv aufgenommen, so nannte etwa der Kritiker einer Frankfurter Zeitung das Werk ein „Virtuosenstück für den Dekorationsmaler und Theatertechniker“. Humperdinck indes reagierte nicht ohne Humor darauf indem er sein Werk als „Ausstattungsstück mit allerhand Musik“ bezeichnete. Die Oper besteht aus insgesamt 33, zum Teil sehr kurzen, Musiknummern, darunter Chöre, Lieder und Melodramen sowie gesprochenen Dialogen. Während die Musik in den Gesangsszenen eher begleitende Funktion hat und auch in den Melodramen vor allem zur atmosphärischen Untermalung dient, findet Humperdinck insbesondere in den reinen Instrumentalteilen, den Vor- und Zwischenspielen, zu einer feinen Melodik mit raffinierter Instrumentation und komplexer motivischer Arbeit.
Das Werk verlangt nach mehr als 30 Mitwirkenden, viele davon sind nur Sprechrollen. Und anstelle der Dialoge, die von den beiden Textautorinnen mehr schlecht als recht gereimt wurden, hat man sich in Graz entschlossen für die dortige Erstaufführung der Oper eine neue Textfassung vom Dramaturgen Tilmann Böttcher (unter Mitarbeit von Bernd Krispin) erstellen zu lassen.
Und da die szenischen Anforderungen an dieses Stück enorm sind, hat man sich auch entschlossen das Werk nur konzertant aufzuführen. Wobei konzertante Aufführung nun schlussendlich dann für das Dargebotene wohl doch nicht der richtige Begriff zu sein scheint. Das Orchester saß zwar auf der Bühne, der Chor größtenteils auch, aber die Solistinnen trugen wunderschöne Kostüme (von Barbara Häusl) und sangen aus den Logen, die böse Fee trat aus dem Zuschauerraum auf, beim Sphärenreigen glitzerten im ganzen Haus die Sterne und im Hintergrund wurden wunderschöne Scherenschnitte eingeblendet (szenische Einrichtung: Christian Thausing).
Iris Vermillion. Foto: Werner Kmetitsch/ Oper Graz
Und die Besetzung war einfach großartig. Tatjana Miyus, die schon im letzten Jahr als Jemmy in Rossinis „Wilhelm Tell“ brillierte, begeisterte mit ihrem warmen, runden Sopran und glasklaren Höhen in der Titelpartie (in einem bezaubernden Prinzessinnenkleid), Iris Vermillion (in einem purpurroten Kleid mit Pelzbesatz) war mit ihrem dramatischen Mezzosopran atemberaubend intensiv als Dämonia. Peter Sonn brillierte als Prinz Reinhold mit klarer deutlicher Diktion (übrigens haben sich alle Mitwirkenden mit großer Wortdeutlichkeit ausgezeichnet) und einer wunderschön geführten, bereits ins Dramatische tendierenden lyrischen Tenorstimme. Mit ihrer strahlenden Sopranstimme begeisterte die neuengagierte Sophia Brommer als Feenkönigin Rosa. (Auf ihre Luisa Miller, die sie demnächst in Graz singen wird, kann man schon gespannt sein.) Dshamilja Kaiser mit ihrem edlen Mezzosopran war die verschlafene Fee Morphina. Sieglinde Feldhofer, Sofía Mara, Dariusz Perczak und David McShane sowie die beiden entzückenden, glockenrein singenden Kinder aus der Singschul‘ der Grazer Oper, Sarah Fournier und Kristin Vorraber, ergänzten in diversen Nebenrollen das Gesangsensemble. In einem roten Lehnstuhl th
ronte die Erzählerin. Erika Pluhar war mit ihrer unverwechselbaren Sprechstimme und dem richtigen Tonfall eine ideale Märchentante. Der Chor der Grazer Oper (Einstudierung: Bernhard Schneider) und das Grazer Philharmonische Orchester unter dem Dirigenten Marius Burkert machten ihre Sache ganz ausgezeichnet. Die Kinder, aber auch die junggebliebenen Erwachsenen applaudierten am Ende begeistert. Nur ein paar ganz junge Kinder quengelten die ganze Zeit. Aber die sollte man eigentlich ohnehin zu Hause lassen.
Walter Nowotny
Noch ein Tipp: am Sonntag dem 8. November 2015 hat man noch einmal die Gelegenheit in der Grazer Oper diese Opernrarität zu erleben. Das sollte man sich nicht entgehen lassen. Und durch die frühe Beginnzeit (17.00 Uhr) können auch Besucher aus Wien noch mit der Bahn nach der Vorstellung (Dauer 2 Stunden) nach Hause kommen.