Glyndebourne Festival 2015
„POLIUTO“ 2.6.2015 (Premiere 21.5.) – Aktualität in alten Gemäuern
Michael Fabiano, Igor Golovatenko. Foto: Tristram Kenton/Glyndebourne-Festival
Ein Werk der „Neuen Kürze“ im Vorfeld Giuseppe Verdis und mit mindestens einem Ohrwurm-Schlager, dazu ein religiöser Konflikt, der heute unverändert aktuell ist – zwei deutliche Argumente für die Besinnung auf eine Rarität, die ihrer vokalen Verlockungen wegen immer mal wieder von großen Interpreten ins Bewusstsein gerufen wurde und deren Stoff den ewigen Kampf verschiedener Glaubensausrichtungen vor Augen führt. Oft wird vergessen, dass die Christenverfolgung keine Erscheinung zurück liegender Jahrhunderte ist – das Rad der Geschichte dreht sich wohl weiter, aber der Machtanspruch unter dem Deckmantel eines leidenschaftlich radikalen Glaubens bleibt die wesentliche Ursache ewiger Unruhen. Pierre Corneille hat die Konfrontation von Römern und Christen im Armenien des 3. Jahrhunderts nach Christus in seinem Drama „Polyeucte“ behandelt. Salvatore Cammarano hat daraus 1838 ein Libretto für Gaetano Donizetti geschaffen. Bevor es zur geplanten Uraufführung kam, wurde das Werk von der Zensur aufgrund der szenischen Darstellung von Märtyrertum in der Kirche zurück gezogen, worauf der Komponist seine Schöpfung 1840 für Paris zu einer wesentlich erweiterten und selbstredend mit einem Ballett versehenen Grand Opéra unter dem Titel „Les Martyrs“ umarbeitete. Kurz nach Donizettis Tod wurde die Uraufführung der italienischen Originalversion in Neapel nachgeholt. Diese bildet auch die Grundlage der allermeisten späteren Wiederbelebungsversuche und erwähnten Aufnahmen. Glyndebourne kann nun für sich beanspruchen, die Erstaufführung auf englischem Boden nachgeholt und damit seine Reihe an britischen Erstpräsentationen bedeutender Opern erweitert zu haben.
Wenn nach Öffnen des Vorhangs noch vor dem Einsetzen der Musik in einer stummen Szene einige Personen über die Szene huschen und wieder verschwinden, besteht zunächst die Vorahnung, Regisseurin Mariame Clément könnte sich auf die Dramaturgie überflüssiger bzw. zusätzlicher Aktionen verlegt zu haben, doch stellen sich besagte Personen im weiteren Verlauf als verfolgte Christen heraus. Also eine Szene, wie sie sich leider auch heute abspielen kann. Designerin Julia Hansen hat die Choristen deshalb in Trenchcoats, die Hauptdarsteller in ihren Stellungen entsprechende Kostüme gekleidet. Sie alle bewegen sich jedoch gemäß des historischen Alters der Handlung zwischen altertümlichen bühnenhohen Mauer-Blöcken, die immer wieder auseinander verschoben, dann wieder zusammengefahren werden, um sich zu angedeuteten Innenräumen zu öffnen. Projektionen der ursprünglichen Spielorte wie eine Arena erscheinen auf den Mauerwänden oder tauchen sie während Poliutos Gefangenschaft bei der Erinnerung an seine geliebte Frau in ein warm erhellendes Licht. Als Requisiten genügen einige Stühle für die Versammlungen der Gläubigen sowie ein durch Holzspäne und Kanister angedeuteter Scheiterhaufen. So sehr der Handlungskonflikt Massen betrifft, so sehr ist er hier auf eine Dreiecksbeziehung fokussiert. Dies zeichnet die Regisseurin mit viel Einfühlsamkeit in die inneren Zerreißproben nach, denen Poliuto, der zum Christentum konvertiert, seine Frau Paolina, die sich trotz der überraschenden Rückkehr ihres tot geglaubten römischen Verlobten Severo schließlich auch zum Christentum bekehrt, um mit ihrem Mann zu sterben, und Severo, der bis zuletzt um sie kämpft, ausgesetzt sind. Und weil die drei Protagonisten diese Nerven zehrenden Gefühlswallungen mit entsprechendem Ausdrucksvermögen und stimmtechnischer Bravour aufzuladen vermögen, ereignet sich ein mit lediglich gut zwei Stunden reiner Spieldauer kurzweiliges Belcanto-Drama. Michael Fabiano ist der gute Ruf eines neuen Vertreters von lyrischen Tenören mit heldischen Möglichkeiten vorausgeeilt. Als solcher präsentiert sich der Amerikaner von Anfang an mit klar ansprechender Stimme, die den Donizetti’schen Melodie-Eingebungen mit sensiblen Phrasierungen und gleitenden Register-Übergängen erhöhte Aufmerksamkeit anstatt das reine Delektieren eingängiger Musik zukommen lässt. Allerdings sollte der schlank gewachsene Künstler aufpassen, mit seiner noch zu offen, ungedeckt und dadurch gelegentlich penetrant ausufernden Höhe wertvolles Material zu verschleißen und die Stimmbänder überzustrapazieren. Diesbezüglich hat Ana Maria Martinez alles bestens im Griff – ihr dunkel getönter Sopran gehorcht allen abgerungenen Stimmungs-Differenzierungen bis ins kleinste Detail, wobei ein ganz leichtes Vibrato den Reiz ihrer Emotionalität noch erhöht. Durch ihre sympathische Erscheinung und ebenso wirkende Anteilnahme stand sie in der Publikumsgunst hörbar an vorderster Stelle.
Ana Maria Martinez. Foto: Tristram Kenton/ Glyndebourne Festival
Die Zeiten knalliger metallisch geprägter Stimmen aus Russland sind wohl endgültig vorbei: Igor Golovatenko stellt als Severo einen blitzsauber und flexibel geführten warmen Bariton mit weichem Kern und runder voller und edler Tongebung vor, die Severo statt einer naheliegenden einseitigen Bösewicht-Strenge das Gepräge eines trotz allen religiösen Fanatismus Mitgefühl heischenden Menschen geben.
Als Christenführer Nearco lässt Emanuele D’Aguanno zu seiner aufrichtigen Spielbereitschaft einen angenehmen Charaktertenor mit deutlich heraus stechender lyrischer Qualität hören. Matthew Rose bringt für den römischen Gegenspieler Callistene würdevoll menschliche Bass-Qualitäten mit, die nur im klanglichen Bereich nicht ganz ins Belcanto-Gefüge passen. Timothy Robinson ist als Stichworte gebender armenischer Gouverneur und Paolinas an den Rollstuhl gefesselter Vater Felice rezitativisch voll auf dem Posten. Der Glyndebourne Chorus wurde von Jeremy Bines exakt, nuancenreich und ausgewogen in den Stimmgruppen vorbereitet und an der Regie mit geschwungenen Fähnchen, gereckten Fäusten und demonstrativ ausgestreckten Armen lebhaft beteiligt.
Das London Philharmonic Orchestra schuf dank guter Raum-Akustik und der hohen Klangqualität des Ensembles eine weich abgefederte Grundstimmung mit warmer Farbgebung und nie grell ausartendem Überdruck. Letzteres ist auch ein Verdienst des hellwach auf alle Feinheiten reagierenden Dirigenten Enrique Mazzola. Der Spanier offeriert einen Belcanto, der genauso auf Schönheiten ausgerichtet ist, wie er auch das Feuer eines entsprechenden Dramas zu entzünden vermag. Und das alles in geschlossener Übereinstimmung mit dem Bühnengeschehen.
Dieses Feuer ging auch aufs Publikum über, war jedoch nach dem ersten stürmischen Verbeugungs-Durchlauf merkwürdigerweise wieder schnell erloschen. Da zelebriert ein festliches Publikum in aller Ausführlichkeit und zeitlichen Großzügigkeit des Drumherums einen Opernbesuch und hat dann trotz vorhandener Begeisterung nicht mehr als 5 Minuten für Applaus übrig. Gibt es dafür eine Erklärung? Denn am Folgeabend bei „Carmen“ war es genauso. Udo Klebes