Glyndebourne Festival 2015: „CARMEN“ 3.6.2015 (WA 23.5.2015) – Vorbildliche Werktreue
Zwei zwischen denen es knistert: Stephanie D’Oustrac (Carmen) und Pavel Cernoch (Don José) in den Anfangstagen. Copyright: Robert Workman

Auch ein noch so exklusives Festival sollte sich nicht zu schade sein, eine gelungene und sicher deshalb erfolgreiche Produktion über viele Jahre zu erhalten. So kam David McVicars 2002 geschaffene Inszenierung von Bizets Hauptwerk nach 2004 und 2008 jetzt bereits zum dritten Male zur Wiederaufnahme. Was sich da in Spielort gemäßen, aber nicht penibel an den Textbuchanweisungen hängenden Bühnenbildern von Michael Vale und mit rollenwürdigen und situationsgemäß wechselnden Kostümen von Sue Blane abspielt, ist pralles Theaterleben, immer konform mit dem Geschehen und mit einer Dichte und Spontaneität gebündelt, dass Musik und Text zu größtmöglicher Wirkung gelangen. Nur ein Beispiel: das Treiben in Lillas Pastias Schenke, wo durch den nahen Aufbau der Szene zur Rampe hin die Personen sich aus dem Chor herauslösen und optimale Präsenz erreichen. Die sich über die ganze Bühnenbreite erstreckende Arena-Wand im 4.Akt hätte dagegen vielleicht ein bisschen weiter nach hinten gezogen werden können, um die Volksmenge nicht zu gedrängt erscheinen zu lassen; spätestens am Ende war jedoch klar, dass der Tod Carmens so eine ideale Wirksamkeit erzielen kann: nicht effekthascherisch frontal ins Publikum, sondern abgewandt zur Mauer hin, wo sie zu Boden gleitet und das Blut als Mahnmal herunter rinnt.
Diese Carmen in Gestalt von Stephanie D’Oustrac ist auch eine Wucht von zentraler Persönlichkeit und natürlichem Darstellungsvermögen, das wie selbstverständlich aus ihrem Körper zu fließen scheint: heiter gelöst, glaubhaft lockend verführerisch mit aparter erotischer Note, spielerisch leicht, aber auch tiefgründig, wenn sie aus den Karten ihren Tod liest, kämpferisch, aber nicht verbissen bis zum Schluss. Damit einher geht ihr vokaler Zugriff mit einem gut gefestigten und kultiviert timbrierten Mezzosopran von leichter Sinnlichkeit, dem bis zur dramatischen Offensive alle erforderlichen Parameter zur Verfügung stehen. Eine Interpretin, die sowohl das zigeunerisch Rassige als auch die Sensibilität für die richtige musikalische Dosierung im linken Finger hat.
Ähnlich vollkommen darf das Debut von Pavel Cernoch als Don José gewertet werden. Der Tscheche hat sich von einem achtbaren lyrischen Tenor nach und nach ins Zwischenfach vorgearbeitet, ohne durch die Verbreiterung und Vergrößerung seiner Stimme an Qualität verloren zu haben. Das Timbre kommt inzwischen noch individueller zur Geltung und fördert so auch die charakterliche Gestaltung, die sich wie hier mit einer bewundernswerten Identifizierung eines durch Carmen auf die schiefe Bahn geratenen Soldaten paart. Bei der ersten Begegnung mit ihr noch der zwischen Gehorsam und Anzeichen des Geschmeicheltseins wechselnde brav erzogene junge Mann, stürzt er sich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in eine deftige Liebesszene, die an körperlicher Dichte und sinnlicher Glaubwürdigkeit nichts zu wünschen übrig lässt und in dieser Ausführlichkeit sonst kaum zu erlauben ist. Nach dem Ruf in die Kaserne kehrt er mit einer dynamisch spannungsvoll und technisch hinreissend ausgekosteten Blumenarie seine Empfindsamkeit nach außen, ehe er zum kompromisslosen Kämpfer wird und sich wie ein von der Spur abgekommener, total Getriebener eine beängstigend dichte letzte Auseinandersetzung mit Carmen liefert. Bemerkenswert, wie die Stimme bei aller Kraft in den schön gerundeten Höhen nie gefährdet wirkt, vielmehr gesund aus dem Vollen schöpfen kann.
Lucy Crowe profitierte als Engländerin und in traditioneller Publikumssympathie für die Micaela vom doppelten Erfolgsbonus, doch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Sopranistin bei aller technischen Tadellosigkeit, vor allem in den sicher gestützten Höhen, bedingt durch eine gewisse Timbreschärfe und die in der Mittellage schon recht schwere Ansprache über diese Rolle hinausgewachsen ist.
Relativ kurzfristig ist David Soar als Escamillo eingestiegen und deckt mit einem gut gefestigten Bass vor allem den unteren und mittleren Bereich der alles fordernden Rolle ab. Leichte Einschränkungen in der Höhe werden durch eine überzeugend kraftvolle szenische Präsenz sowie eine rollengerechte Erscheinung kaschiert. Simon Lim übernahm für ihn den Part des Zuniga und deckte den ebenfalls Carmen begehrenden Leutnant vor allem mit einem angenehm gerundeten Bass gut ab. Gavan Ring stellte sich in der Eingangsszene als Moralès mit griffigem Bariton vor. Die beiden Zigeunerinnen waren mit Eliana Pretorians als Frasquita mit klar durchsetzungsfähigem Sopran und Rihab Chaieb als Mercédès mit schlankem Mezzosopran auch spielerisch temperamentvoll besetzt und wurden von den Schmugglern, Christophe Gay als Dancairo mit etwas herbem Charaktertenor und Loic Félix als Remendado mit attraktivem lyrischem Potential zu einem blitzschnell aufeinander reagierenden Quintett ergänzt.
Der Glyndebourne Chorus inkl.der Kinder war von Jeremy Bines auch hier bestens präpariert, unterstützt von der jederzeit stimmigen szenischen Führung, egal ob in vollem Saft oder in transparent aufgesplitterten Gruppen.
Jakub Hrusa hatte am Pult des wiederum klanglich warmen, nie aufdringlich zulangenden London Philharmonic Orchestra durchgehend die Zügel fest in der Hand, gab den Entfaltungen verschiedener atmosphärischer Zustände den ihnen gebührenden Raum und konnte trotzdem den Eindruck nicht verhindern, dass manchmal mehr Straffheit herrschte als es bei aller Genauigkeit vokaler Bedürfnisse notwendig wäre. So fehlte es trotz forscher Vorgaben und spannungsvoller Zuspitzungen an federnder Leichtigkeit und Gelöstheit. Die Gesamtqualität der Aufführung wurde dadurch aber kaum beeinträchtigt.
Udo Klebes