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GEORGES BIZET: LES PÊCHEURS DE PERLES – Fuchs, Dubois, Sempey – 2 CDs PENTATONE – in der neuen dem Original so nah als möglich genäherten Version von Hugh Macdonald

25.04.2018 | cd

GEORGES BIZET: LES PÊCHEURS DE PERLES – Fuchs, Dubois, Sempey – 2 CDs PENTATONE – in der neuen dem Original so nah als möglich genäherten Version von Hugh Macdonald 

 

Was ist dafür verantwortlich, dass die Perlenfischer des 25-jährigen Bizet im Vergleich zur Carmen einen nur so bescheidenen Erfolg hatte? Die in bloß vier Monaten vollendete exotische Partitur ist es sicher nicht, denn die Perlenfischer, die wir hier in der exzellenten Aufnahme aus dem Nouveau Siècle de Lille vom Mai 2017 hören, ist, was die Musik betrifft, zumindest Gounods Faust ebenbürtig. Wahrscheinlich ist es die populärste aller Opern überhaupt, nämlich die einem harten Realismus huldigende Carmen selbst, die alle andere Schöpfungen Bizets in  ihrem Schatten verdorren ließ. Natürlich ist auch das Libretto keinen geniale Sache. Aber für eine Neubewertung ist ja nicht aller Tage Abend. In letzter Zeit erleben die Perlenfischer nämlich eine gewisse Renaissance, wie die jüngsten Aufführungen in Berlin und New York belegen. Rein musikalisch lässt das neue Album aus Lille jedenfalls sowohl die MET als auch die Produktion der Staatsoper unter den Linden weit hinter sich. Man höre und staune!

 

Erste Überraschung: Das von Jean-Claude Casadesus auf ein immenses Niveau gehievte Orchestre National de Lille weiß sich unter der Leitung des jungen Alexandre Bloch noch einmal zu steigern und in dieser konzertanten Präsentation zu begeistern. Für den Moment der zwei Aufführungen in Lille war wohl Paris als musikalische Hauptstadt abgeschlagen. Überaus begabt an dramaturgischer Raffinesse, instinktiver Impulsivität, Wagemut und symphonischem Atem, weiß Bloch ab der Ouvertüre, in den Zwischenspielen und selbstverständlich den im Spannungsablauf so geschickt gestrickten Finali das „Provinzorchester“ zu Höchstleistungen  anzuspornen. Nichts weniger als eine Offenbarung ist dieser Chef! Aber auch der Chor, der in dieser beinahe durchkomponierten Oper eine große Rolle spielt, ist bei den „Cris de Paris“ (allesamt auch als Solisten erfolgreich) mehr als gut aufgehoben und wartet mit akzentuierter Deklamation, jugendlicher Frische, fleischiger Kraft, Homogenität und Klangschönheit auf.

 

Das eigentliche Atout jeder Opernaufführung liegt jedoch in den sängerischen Qualitäten begründet. Hier haben wir es mit einer unverbrauchten Idealbesetzung von aufstrebenden Stars noch abseits vom musikindustriellen Kommerz zu tun, überwiegend Rollendebüts. Angeführt von Julie Fuchs als Leila (zum Zeitpunkt der Aufnahme war das Thema Schwangerschaft, Zauberflöte und Hamburg noch nicht auf der Tagesordnung), Cyrille Dubois als Nadir und Florian Sempey als Zurga, schließt Luc Bertin-Hugault als Nourabad einen vokalen Reigen der Spitzenklasse in dieser durch wahre Freundschaft der männlichen Konkurrenten verkomplizierten Dreiecksgeschichte. Fuchs als lyrischer Sopran mit Koloratur bezaubert mit cremig rundem  Timbre, strahlenden Höhen und gekonnter Phrasierung.  Cyrille Dubois ist ein tenoraler Draufgänger, die helle und kernige Textur der Stimme, sein jugendliches Timbre passen im Liebesduett im 2. Akt ganz ausgezeichnet zur glutvollen brahmanischen Priesterin der Fuchs. In den Höhen könnte noch ein wenig an Leichtigkeit im Absatz und schwebenden Piani gearbeitet werden. Florian Sempey kann nun neben seiner Marke als Figaro im Barbiere von Rossini ein weiteres Rollen-Glanzlicht verbuchen. Wieder ein seltener Bariton, der seine dunkel markante Tiefe, eine sämige Mittellage und lodernde Höhen in den Dienst echter vokaler Porträts und nicht bloßer Zurschaustellung von Stimmpotenz stellt.

 

Die neue Aufnahme ist aber sicher auch wegen der hier verwendeten Fassung von Interesse. Zugänglich ist nämlich nur ein von Bizet selbst erstellter Klavierauszug sowie eine „kurze“ Partitur mit rudimentären Eintragungen der Orchesterstimmen. Das Autograph befindet sich in Privatbesitz und ist der Öffentlichkeit bis dato nicht zugänglich. So was soll es auch geben. Bearbeiter und sog. Arrangeure haben sich ab Ende des 19. Jahrhunderts massiv an dem Werk vergriffen, nicht nur in den Mikrostrukturen herumgefuhrwerkt, sondern auch ganze Teile gestrichen oder nach Gutdünken  ergänzt. Die Musikwissenschaft hat sich erst Mitte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zaghaft für die Perlenfischer zu interessieren begonnen. 2002 gab es eine kritische Edition von Brad Cohen. 2014 war es Hugh Macdonald, der sich am nähesten an das Basismaterial heranarbeitete. Das Ergebnis überzeugt, die Interpretation aus Lille ist trotz einer starken Vergleichsdiskographie (Cotrubas, Vanzo; Pretre – Alarie, Simoneau; Fournet – Micheau, Gedda; Dervaux) die neue Referenz. Ein Glücksfall.

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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