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GEORGE BIZET: CARMEN – Salzburger Festspiele Live Aufnahme vom 29.7.1967 – ORFEO

Herbert von Karajans spannendste Carmen-Interpretation

29.09.2018 | cd

GEORGE BIZET: CARMEN – Salzburger Festspiele Live Aufnahme vom 29.7.1967 – ORFEO

Herbert von Karajans spannendste Carmen-Interpretation

Wer denkt, er kennt die Besetzung mit Bumbry, Vickers, Freni und Diaz ja vom Film (Deutsche Grammophon) und das darunter gelegte Studioband, und braucht in diesen Live Mitschnitt, übrigens der erste kompletten Festspielaufnahme des ORF in Stereo, nicht hineinhören, hat sich gewaltig getäuscht. Im zweiten Jahr nach der Premiere im Jahr 1966 hatte Karajan offenbar seinem untrüglichen Gespür für dramatische Bögen, lyrisches Innehalten und klangbildmächtige Cinemascopepracht freien Lauf gelassen. Klar, dass hier Carmen in der damals üblichen durchkomponierten, von Ernest Guiraud ergänzten Fassung  gespielt wurde. Karajan interessieren weniger die Opéra Comique-Aspekte der Partitur, als diese realistische Volksoper in Grand Opera Manier gewürzt mit veristischer Drastik zu zeigen. Das mag nach heutigen Vorstellungen nicht mehr state of the art der Aufführungstradition sein, überwältigt aber vom ersten bis zum letzten Moment. Vielleicht lässt es Karajan zu Beginn der Ouvertüre und vor Lillas Pastias Kneipe im zweiten Akt eher teutonisch krachen, denn champagnerhaft moussieren. Dafür entschädigen unter anderem himmlische Lyrismen, unendlich zart gesponnene Bögen in den Arien der Micaëla sowie ein atemberaubender Schluss im vierten Akt. Immer aber ist Karajan ein Meister präzise gesetzter musikalischer Höhepunkte, ein souveräner Ordner all der Orchester- und Chormassen und ein Sängerbegleiter der Sonderklasse. Wer spannende Musiktheater Mitschnitte aus dieser Goldenen Ära der Oper schätzt, wird um diese Publikation nicht herumkommen. 

Die Besetzung, die Karajan zur Verfügung hatte, ist an diesem Abend in Top-Form und sowieso bis in die kleinen Partien hinein vom Allerfeinsten. Grace Bumbry ist eine ideale Carmen. Ihr breit und bruchlos geführter Mezzo zeichnete sich durch eine samtdunkle Mittellage und eine hellstrahlende Höhe aus. Wie bei einem edlen Bordeaux reicht der Farbenreigen der Stimme von einer rubinschwarzen Tiefe bis hin zu einer ziegelroten bis hellorange-sonnigen Toplage. Bumbry vermag mit rein stimmlichen Mitteln alle emotionalen Widersprüche und den stolzen Eigensinn der zigarettenrauchenden Fabriksarbeiterin auszuleuchten. Seien es Verführung, opportunistisches Glücksstreben, irrationale Spontaneität, unbändige Lebenslust oder stures ins Verderben laufen, für all das findet Bumbry den passenden Ton, kann sie aus dem barock-prallen Füllhorn ihrer stimmlichen Möglichkeiten musikdramatischen Ausdruck schöpfen. 

Ein Glücksfall ist die Kombination mit dem kanadischen Heldentenor Jon Vickers als kopflos-höriger Don José.  Vickers kann seinem Rollenporträt eines sensibel verletzlichen Mannes die unheimlich lauernde Kraft und die eifersüchtige Elementarwucht eines Otello hinzufügen. Zu der für ihn typischen rauchig verhangenen Mittellage gesellt sich ein eruptiv naturgewaltiges hohes Register, das etwa seinem Tristan oder seinem Äneas solch unverwechselbares Profil gaben. Das Schlussduett, wenn Vickers nach seinem tränenerstickten geschluchzten „Carmen verlass mich nicht“ in elementaren Vernichtungsmodus kippt, gehört zu den großen eindringlichen Momenten der auf Tonträger gebannten  Operngeschichte. Als perfekter stimmlicher Kontrast zu den beiden Protagonisten ergänzen die zärtliche innige Micaëla der Mirella Freni sowie der virile Justino Diaz als Escamillo eine Besetzung, die auch mit der wunderbaren Olivera Miljakovich (Frasquita), Julia Hamari (Mercédès), Anton Diaskov (Zuniga) und Robert Kerns (Moralés) nicht weniger als als glanzvoll bezeichnet werden kann.

Die Wiener Philharmoniker spielen großteils auf höchstem Niveau, wie sie es halt tun, wenn sie von einem großen Dirigenten gefordert werden. Der Hörer kann sich an einer Orgie an Orchesterfarben berauschen. Das Blech lässt es allerdings manchmal grob tuschen. 

Für Freni, Vickers und Diaz bedeutete die Carmen Premiere 1966 das Debüt bei den Salzburger Festspielen, wie dies in allen Einzelheiten und in persönlicher Erinnerung an die Aufführung Gottfried Kraus im wie immer bei ORFEO kenntnis- und bildreich dokumentierten Booklet darlegt. Klangtechnisch konnte auf die Originalbänder zurückgegriffen werden, was einen enormen Vorteil gegenüber den auch bei dieser berühmten Aufnahme existierenden nicht autorisierten Versionen darstellt. Für Melomanen unverzichtbar!

Herbert von Karajans Carmen-Diskographie (soweit mir bekannt):

– Simionato, Gedda, Roux, Güden, Wiener Philharmoniker, 8.10.1954 (u.a. Documents,    Walhall)

– Simionato, di Stefano, Roux, Carteri, Scala di Milano, live Dezember 1955 (u.a. Turnabout, Fonit Cetra)

  • Resnik, Usunow, Protti, Güden, Wiener Staatsoper, 10.12.1962 (Hunt Productions)
  • Price, Corelli, Merrill, Freni, Wiener Philharmoniker, November 1963 (Studio), RCA

– Bumbry, Vickers, Diaz, Freni, Wiener Philharmoniker, Studio, Film, (DVD Deutsche    Grammophon)

Bumbry, Vickers, Diaz, Freni, Winer Philharmoniker, live Salzburger Festspiele, 29.7.1967 (Orfeo)

– Baltsa, Carrerras, Ricciarelli, van Dam, Berliner Philharmoniker, 1982 Studio, (Deutsche Grammophon)

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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