„Mein ganzer innerer Weg führt zu Mahler“.
George Alexander Albrecht, Träger der Gustav-Mahler-Goldmedaille, im Gespräch mit Juliane Hennenberg
Der in Bremen geborene Dirigent und Komponist George Alexander Albrecht (80) studierte in seiner Heimatstadt Violine, Klavier und Komposition. Sein erstes Werk verfasste er mit elf Jahren, weitere elf Jahre später hatte er bereits 116 Werke geschrieben. Knapp dreißig Jahre lang wirkte er als GMD an der Niedersächsischen Staatsoper Hannover, danach war er Ständiger Gastdirigent an der Semperoper Dresden und ab 1996 GMD des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar, dessen Ehrendirigent er seit 2002 ist. Er gilt als Spezialist für die Werke Mozarts, Wagners und Gustav Mahlers sowie des zeitgenössischen Repertoires. Immer wieder setzt er sich für selten gespielte Werke ein, darunter Werke von Hans Pfitzner, Erwin Schulhoff und Wilhelm Furtwängler, dessen Sinfonien er als Präsident des Vereins Wilhelm-Furtwängler-Gesamtausgabe edierte. In dem Zusammenhang erschienen drei CDs mit den gesamten Sinfonien Furtwänglers mit der Staatskapelle Weimar. Seit 2002 hat er sich verstärkt wieder aufs Komponieren verlegt, demnächst stehen Uraufführungen von Der Geisterkämpfer, Himmel über Syrien und der Oper Die Schneekönigin an. Mit Wien ist er einerseits verbunden durch die Verleihung der Gustav-Mahler-Goldmedaille der Internationalen Mahler-Gesellschaft Wien im Jahre 1985 sowie auch durch seine Wagner-Dirigate an der Staatsoper, Der fliegende Holländer (1985), Die Götterdämmerung (1986 und 2001), Die Walküre (1988) oder Parsifal (1998).
Herr Professor Albrecht, vor fast genau 30 Jahren haben Sie an der Wiener Staatsoper den Fliegenden Holländer dirigiert. Was war besonders?
An der Staatsoper gab es keine Proben! Ich kam ans Pult, und das Publikum hat gezischt! Ich dachte mir, du hast ja noch nichts verbrochen. Am Ende wurde es ein solcher Triumph, dass man mir den ganzen Ring anbot.
Wie ist Ihr persönlicher Bezug zu Richard Wagner?
Wagner wurde im Elternhaus abgelehnt. Als junger Kapellmeister musste ich mich aber ernsthaft mit dem Fliegenden Holländer auseinandersetzen. Das hat mein ganzes Leben bestimmt, ich könnte ohne Wagner meinen Weg überhaupt nicht denken. Tristan ist für mich das Zentrum.
Ähnlich war das bei Mahler, erst Ablehnung, dann Liebe. Ich war noch Student, noch ganz auf der Schumann-, Brahms-, Mendelssohn-Linie. So hörte ich auf einem Dirigierkurs meinen Lehrer Paul van Kempen mit der Dritten Sinfonie. Bei dem unglaublichen Marsch im ersten Satz standen mir alle Härchen zu Berge, ich war entsetzt. „So darf man nicht komponieren“, dachte ich. Doch bei der Aufführung war der Hass umgekippt in unauslöschliche Zuneigung. Im letzten Satz bei „Was mir die Liebe erzählt“ habe ich nur noch geweint vor Erschütterung.
Vor 30 Jahren erhielten Sie die Gustav-Mahler-Goldmedaille der Internationalen Gustav-Mahler-Gesellschaft Wien. Was bedeutete Sie Ihnen damals und was bedeutet Sie Ihnen heute?
Mein ganzer innerer Weg führt hin zu Gustav Mahler. Als ich mit Mahler anfing, kannte ich Bruckner sehr genau, und Beethoven auswendig. Ich merkte, dass Mahler die große Liebe meines Lebens geworden ist, das Zentrum. Ich habe ja ein Buch darüber geschrieben (Die Symphonien von Gustav Mahler, Verlag Ries und Erler, Berlin). Als ich Mahlers Gesamtwerk aufgeführt hatte, hörte mich Gottfried von Einem mit der Neunten Sinfonie, die ich mit dem Niedersächsischen Staatsorchester aufführte. Er setzte sich in Wien dafür ein, dass wir, das Orchester und ich, 1985 die Goldmedaille bekamen.
Was war die Grundidee Ihres Mahler-Buches?
Die Sinfonien Mahlers führte ich weitgehend erstmals in Hannover auf. Vor jeder öffentlichen Generalprobe hielt ich Einführungsvorträge, wofür mein damals elfjähriger Sohn Marc und ich vierhändig Tonbeispiele gaben. Die Veranstaltungen fanden solchen Zuspruch, dass größere Räume gemietet werden mussten für das immer zahlreicher erscheinende Publikum. Bald wurde ich gebeten, meine Vorträge niederzuschreiben, und daraus ist das Buch entstanden.
Es eignet sich nicht für Musikologen, wohl aber für Musiker, auch für das Publikum. Die Menschen sind erschüttert von Mahlers Musik, viele wissen aber nicht warum. Die feinsten seelischen Nuancen zwischen Trauer, Verzweiflung oder Wehmut, kann man belegen und erklären.
Der Untertitel des Buches lautet „Was uns mit mystischer Gewalt anzieht“. Wieso?
Etwas eigenmächtig deute ich es so herum: „Was uns mit mystischer Gewalt hinanzieht: Die Symphonien Gustav Mahlers“. Goethes „Das Ewigweibliche zieht uns hinan“ wird von Gustav Mahler in seiner Achten Sinfonie wunderbar erklärt. Niemand kann Goethes Faust II so gut inszenieren wie Mahler das sinfonisch getan hat. Gustav Mahler ist Mystiker gewesen. Er hatte ein direktes, von der Kirche unabhängiges Gotteserlebnis. Und das schlägt sich in jeder seiner Sinfonien nieder. Die ersten vier Sinfonien sind naive, dinghaft kindliche Mystik, die Fünfte, Sechste und Siebte stehen für Gottferne. Acht, Neun und Lied von der Erde neigen sich zum Tode, sie handeln von der Ewigkeit.
Die Zeitungen sind voll mit tragischem Leid. Sie beschäftigen sich ja auch mit der Hospizbewegung. Was bedeutet das für Sie im derzeitigen gesellschaftlichen Umfeld?
Die Alten werden weggesteckt in Heime, und die Heime schaffen die Arbeit nicht, deshalb muss man helfen. Das ist für mich aber gar nicht das Wesentliche, ich bin kein Kommunalpolitiker, kein Soziologe. Aber ich bin ein durch übermäßige Erfolge und Beachtung „verdorbener Charakter“. Wilhelm Furtwängler sagt „Dirigieren verdirbt den Charakter“. Ein Dirigent hat eine solche Macht, dass er glaubt wirklich so groß und grandios unübertrefflich zu sein. Aber man muss bescheiden sein, man ist ja ein Dienender, man dient doch dem Komponisten. Da habe ich mir gesagt: Ein Leben lang hast du dir das gefallen lassen, nun musst du schleunigst dafür sorgen, dass du ein Gegengewicht dafür schaffst, und das heißt „dienen, dienen“, (Kundry, dritter Akt Parsifal). Denen dienen, die gar nichts mehr haben. Keine Hoffnung, keine Gesundheit, keine Zukunft, keine Mitmenschen.
Beim Helfen gehen Kräfte von mir aus. Das macht mich froh. Meine kleinen Probleme sind nichts gemessen am Ereignis des Sterbens. Der Tod wird ja heutzutage verteufelt. In Mahlers Vierter Sinfonie ist er Freund Hein mit der verstimmten Geige, der Freund des sterbenden Kindes. Bei Bach heißt es „Komm, süßer Tod“. Wer sich wirklich mit dem Phänomen beschäftigt der merkt, es ist ein Segen, dass wir sterben dürfen. Der Tod ist wirklich ein Freund, nur merken es die Menschen nicht.
2002 hatten Sie einen gesundheitlichen Zwischenfall beim Dirigieren. Seitdem konzentrieren Sie sich auf das Komponieren?
Ich nenne es meinen „Umfall“, ich hatte einen Herzstillstand, übrigens an der wunderbaren Stelle von Beethovens Neunter Sinfonie, kurz vor Schluss, „Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“. Durch dieses Ereignis musste ich sehr viel absagen: An der Wiener Staatsoper zum Beispiel drei Aufführungen (Parsifal mit Plácido Domingo), Neueinstudierung Lohengrin in Leipzig, eine ganze Tournee in Japan mit dem NHK. Das war der Karriereknick. Es war ein Tiefpunkt. Aber dann sagte ich mir, „Du hast das Komponieren gelernt, tu es, fang an.“ Zuerst schrieb ich Kammermusik für meine Töchter, dann eine Motette für den Dom zu Erfurt über die Heilige Elisabeth. Weitere Motetten und Kantaten, Orchesterstücke und eben meine Oper Die Schneekönigin.
Kürzlich erklangen Ihre Vier Buchenwald-Gesänge anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des KZ Buchenwald.
Es geht um vier von Häftlingen verfasste Gedichte. In der Musik spreche ich vier Themen an: Die Liebe zur Mutter, Abschied eines Freundes, den Zorn gegen Charon, den Fährmann der Unterwelt, und „Liberté“, die dem Sänger vor Erschöpfung im Halse erstickt. Das Stück ist kammermusikalisch konzipiert, rund zehn Minuten lang. Es war meine erste politische Komposition.
Ein weiteres politisches Werk Himmel über Syrien, ist eigentlich ein Marienhymnus, aber konnotiert mit den grausamen derzeitigen Kriegsereignissen. Die Kriegsmaschinerie wird durch gestopftes Blech und Schlagzeug dargestellt, dies verdirbt alle Möglichkeit, Musik zu machen, anzubeten, zu glauben. Am Ende versinkt alles in einem riesigen Absturz. Und dann das Gebet „Maria breit den Mantel aus, mach Schirm und Schild für uns daraus“.
Wie würden Sie Ihren kompositorischen Stil beschreiben?
Verschmelzung von Neoromantik und Moderne. In den Fünfziger Jahren, als ich jung war, fühlte ich mich natürlich als Komponist und Dirigent. Früher war das eine selbstverständliche Einheit. Aber nach 1945 galt das ungeschriebene Gesetz „Nicht tonal komponieren, Dur und Moll sind antiquiert und vorbei“. Ich glaube aber an das Naturgesetz der Obertonreihe, an die menschliche Stimme. Als Dirigent habe ich dann besonders die Moderne Musik gepflegt. Das Schwerste, was ich gemacht habe, waren Die Soldaten von Zimmermann. Auch Arnold Schönbergs Moses und Aron, inszeniert von George Tabori in Leipzig, war zentral wichtig für mich. Ich dirigierte auch viel Henze.
Mein Komponieren schien aber versiegt. Von 1957 bis 2010 habe ich nichts geschrieben. Stellen Sie sich einen Fluss im Gebirge vor, der kilometerweit versinkt und an einer anderen Stelle aus der Erde wieder hervortritt. Dass ich den Bleistift aufs Papier setzen kann und Musik herauskommt, ist so ein riesiges Geschenk und Erlebnis. Mein ganzes Leben lang, über ein halbes Jahrhundert, wurde dieses Quellwasser nicht beansprucht, nun sprudelt es.
Mich persönlich als junge Musikerin und musikinteressierte Publizistin interessiert, wohin die Oper sich entwickeln muss, damit sie auch in 50 Jahren weiterhin lebendig bleibt.
Ich mache mir da überhaupt keine Sorgen. Verdische Melodien begeistern, egal, wann der Hörer geboren ist. Von Mozart brauchen wir überhaupt nicht zu reden, sein Humor und seine Tiefe sind völlig zeitlos. Wagners Größe des dramatischen Vorgangs und die Wucht seiner Musik, daran kann keiner vorbei. Mahler komponierte Tiefenpsychologie, hat den Konzertsaal zur Weltbühne gemacht. Nach wie vor strömen die Menschen ins Theater und Konzert, wenn lebendige Musik gemacht wird. Und das wird so bleiben. Das Musical hat große Verdienste. Komponisten hatten den Mut, auch das Triviale mit guten Texten zu verbinden, beispielsweise Kiss me, Kate von Cole Porter, das ist Shakespeare.
Was bedeutet es für Sie, Musik zu komponieren und zu dirigieren? Ist es für Sie ein Auftrag an die Nachwelt, wollen Sie etwas verändern?
Ich mache es, weil es mein Leben ist, ich könnte gar nicht anders. In meinem Kopf war immer Musik. Meine neue Oper Die Schneekönigin bedient genau das, worüber wir gerade sprachen. Ein paar Stellen kann man mitsingen, sie stillen das Bedürfnis nach Verständlichkeit. Sie gehen ins Ohr. Andererseits gibt es auch das Verlangen nach gedanklicher Tiefe. Die atonalen Szenen der Schneekönigin sind ein Kontrasterlebnis. Das Dämonische dieser Figur spiegelt sich in der Musik.
Darf man „schön“ komponieren? Trotz Auschwitz, trotz allem Schrecklichen, was auf dem Globus passiert; wo Menschen sind, wird geliebt, gibt es Schönheit, Sehnsucht nach Geborgenheit, da gibt es all dieses, was menschliches Leben ausmacht. Man darf schöne Musik schreiben, aber das Schreckliche darf man nicht aus dem Auge verlieren. Henze sagt „Anything goes“.
Wie sehen Ihre Pläne für die nächsten Jahre aus?
Die Schneekönigin. Eine Märchenoper. Die Premiere ist am 28. November 2015 an Deutschen Nationaltheater in Weimar. Vorgestern war die erste Orchesterprobe. Es ist ein tiefes Märchen. Alle Kriege, alles Leid kommt aus dem Egoismus. Die Menschen denken an sich, nicht an die anderen. Die Schneekönigin prophezeit am Schluss „Ihr werdet alle einsam durch Egoismus werden“. Wer sich nicht aus dem Egoismus befreit, stirbt in Einsamkeit. Einsamkeit ist das Schicksal des modernen Menschen. Kay wird durch Gerdas Liebe erlöst, es geht aber um den Reifungsprozess von zwei jungen Menschen.
Meine Pläne? Komponieren solang es geht und ebenso die Sterbebegleitung im Hospiz beibehalten.
Herr Professor Albrecht, ich bedanke mich für das Gespräch.