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GENF/ Grand Théâtre de Genève: „An American in Paris“. Broadway im Spiegel der Erinnerung

22.12.2025 | Operette/Musical/Show

Broadway im Spiegel der Erinnerung

„An American in Paris“ am Grand Théâtre de Genève (Aufführung vom 21.12.2025)

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Robbie Fairchild und Radfahrende StatistinFoto: GregoryBatardon

Es gibt Abende, an denen ein Opernhaus mehr ist als ein Aufführungsort – es wird zum Resonanzraum kollektiver Sehnsucht. Mit An American in Paris gelingt dem Grand Théâtre de Genève genau das: ein schillernder Rückblick auf eine Epoche, in der Kunst als Gegenentwurf zur Verwundung der Geschichte gedacht war. Broadway-Glamour, ja – aber gebrochen durch Nachkriegsnervosität, Melancholie und den tastenden Optimismus einer Generation im Aufbruch.

Die Inszenierung von Christopher Wheeldon, seit der Pariser Uraufführung 2014 ein internationaler Erfolg, ist weit mehr als eine nostalgische Verbeugung vor dem Hollywood-Filmklassiker von 1951. Wheeldon erzählt nicht primär eine Liebesgeschichte, sondern eine künstlerische Selbstvergewisserung: Paris als Projektionsfläche für Hoffnung, Tanz als Sprache jenseits des Traumas. Dass drei Männer um dieselbe Frau werben, bleibt dramaturgische Skizze – entscheidend ist das Schweben zwischen Verlust und Neubeginn.

Musikalisch liegt der Zauber in der scheinbaren Selbstverständlichkeit, mit der die Werke von George Gershwin ineinandergreifen. Das berühmte rhapsodische Ballett bildet das emotionale Zentrum, doch ebenso wirkungsvoll sind die orchestralen Einsprengsel aus dem Concerto in F oder der Cuban Overture, die – etwa in einem ironisch gebrochenen Maskenball – den Abend vor süsser Gefälligkeit bewahren. Die Songs (I Got Rhythm, The Man I Love), längst zu Klassikern geronnen, erscheinen nicht als museales Zitieren, sondern als atmende Gegenwart.

Unter der musikalischen Leitung von Wayne Marshall entfaltet das Orchestre de la Suisse Romande eine bemerkenswerte Balance aus jazziger Lässigkeit und sinfonischer Präzision. Marshall versteht Gershwin nicht als leuchtendes Denkmal, sondern als vibrierende Musik des Übergangs – rhythmisch pointiert, klanglich warm, mit Sinn für Zwischentöne. Bewusst hält er sich klanglich zurück, um die Sänger nicht zu überdecken, glättet Kanten und setzt auf einen fliessenden musikalischen Diskurs, der die Melodie in den Vordergrund rückt.

Wheeldons choreografische Handschrift bewegt sich souverän zwischen Reverenz und Eigenständigkeit. Die Schatten von Gene Kelly, Roland Petit und Jérôme Robbins sind spürbar, aber nie erdrückend. Statt Zitaten setzt Wheeldon auf Fliessen: Linien lösen sich auf, Ensembles atmen gemeinsam, das Corps wird zum emotionalen Seismografen. Tanz ist hier nicht Ornament, sondern dramaturgischer Motor.

Visuell überzeugt die Produktion durch elegante Zurückhaltung. Die Bühnenbilder und Kostüme von Bob Crowley evozieren ein Paris zwischen Bohème und Glamour, ohne ins Postkartenhafte zu kippen. Das Lichtdesign von Natasha Katz verleiht dem Abend eine fast filmische Tiefenschärfe – weich, doch nie sentimental. Video- und Klangdesign fügen sich unaufdringlich in das Gesamtbild ein.

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Anna Rose O’Sullivan als Lise Dassin mit Ballettensemble. Foto: Gregory Batardon

Darstellerisch profitiert die Genfer Aufführung von der Rückkehr zahlreicher Mitglieder der Originalbesetzung von 2014. Robbie Fairchild, ehemaliger Principal des New York City Ballet, zeigt sich in beeindruckender körperlicher Verfassung. Sein Jerry Mulligan ist ein suchender Idealist, dessen Virtuosität nie Selbstzweck wird – besonders im zweiten Teil des Abends hinterlässt er einen nachhaltigen Eindruck. An seiner Seite überzeugt Anna Rose O’Sullivan als Lise Dassin: zugleich fragile Projektionsfläche und selbstbewusste Künstlerin, eine Figur, die weniger gespielt als getanzt wird. Die beiden bilden ein Paar von bemerkenswerter Geschlossenheit und stilistischer Harmonie.

Vokal setzt vor allem Etai Benson (Adam) Massstäbe: mit klarer Artikulation und expressiver Präsenz. Emily Ferranti (Milo) punktet mit warmen Tiefen, während Max von Essen (Henri) zwar solide bleibt, jedoch nicht alle Facetten seiner Rolle mit dem nötigen Glanz ausleuchtet. Insgesamt trägt das Ensemble den Abend mit spürbarer Geschlossenheit – Broadway-Temperament trifft auf europäische Präzision.

Zehn Jahre nach der Aufführung von Gershwins einziger Oper Porgy and Bess landet das Grand Théâtre de Genève erneut einen Volltreffer: Diese musikalische Komödie wird am Ende mit einer langen Standing Ovation gefeiert – vollkommen zu Recht.

So erweist sich An American in Paris in Genf als weit mehr als ein festliches Musicalereignis. Es ist eine Reflexion über Kunst nach der Katastrophe, über Schönheit als Widerstand – und über den Tanz als Möglichkeit, Geschichte für einen Moment zu überwinden. Ein Abend, der glänzt, ohne zu blenden, und berührt, ohne zu verführen.

Marcel Emil Burkhardt

 

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