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GELSENKIRCHEN/ Musiktheater im Revier: CURLEW RIVER von Benjamin Britten

20.09.2021 | Oper international

GELSENKIRCHEN: CURLEW RIVER von Benjamin Britten
18.9.2021 (Werner Häußner)

mir curlewriver 4 (foto björn hickmann)
Copyright: Björn Hickmann

Theater und Ritus, sie haben uralte Ursprünge im Kult. Das 20. Jahrhundert hat mit dem Ende der erzählenden Oper diese Wurzeln wieder neu entdeckt. Das Rituelle, Stilisierte kommt zu neuen Ehren, die Imitation von „Realem“ auf der Bühne verliert an Kraft. Benjamin Britten hat – wie manch anderer auch – aus der Begegnung mit dem japanischen Nō-Theater den Impuls empfangen und ihn gemeinsam mit seinem Librettisten William Plomer ins europäische Musiktheater umgesetzt. Eines der Ergebnisse war nun in Gelsenkirchen zu erleben: Das Musiktheater im Revier führte in der weiträumigen neuromanischen St. Georgs-Kirche Brittens „Curlew River“ auf, eine „Parabel zur Aufführung in der Kirche“. Die Bezeichnung „Oper“ im Programm greift also zu kurz.

Der Kunstgriff Brittens, um das japanische Nō-Theater in den europäischen Kulturraum zu transformieren, ist seine Verschmelzung mit dem aus dem Mittelalter stammenden christlichen Mysterienspiel. Die kostbaren Masken und Gewänder des Nō bleiben außen vor, aber die rituell anmutende Reduktion und der Bezug des Erzählten zu einer in der Vorlage allgemein gehaltenen Jenseitigkeit finden in Brittens knapp neunzigminütigem Spiel ihren Widerhall.

Am Anfang und am Ende zeigt sich die christliche Überformung als bestimmend: Zur Eröffnung ziehen Mönche unter Führung ihres Abtes ein und singen den lateinischen Hymnus „Te lucis ante terminum“, eine Bitte um den Schutz Gottes vor dem Verschwinden des (Tages-)Lichts. Am Ende, wenn das japanische Original „Sumidagawa“ von Jūrō Motomasa mit Irrsinn und Seelendunkel schließt, verkündet bei Britten der „Spirit“ von oben, die Toten werden wieder auferstehen. Und das „Amen“, das am Ende des eröffnenden gregorianischen Chorals ins Dissonante verschwebt, erklingt jetzt in harmonischer Reinheit.

Das Thema hat, wie so oft bei Britten, mit einem misshandelten männlichen Opfer zu tun: Ein von einem Sklavenhändler entführter Junge stirbt nach der Überfahrt mit der Fähre über den Curlew River an Erschöpfung. An seinem Grab finden Heilungen statt und am Jahrestag seines Todes pilgern viele Menschen an den Ort. Eine wahnsinnige Frau, auf der Suche nach ihrem verschwundenen Sohn, wird vom Fährmann zusammen mit einem Reisenden über den Fluss gesetzt und erkennt in dem verehrten Kind ihr eigenes. Von seiner Stimme aus dem Jenseits erfährt sie Trost und Heilung.

Die Geschichte nimmt nicht nur Elemente des Nō-Theaters auf, etwa den Wahnsinn, den Reisenden oder den segnenden Geist aus dem Jenseits. Sie wirkt auch in ihrer in der Schwebe gehaltenen Symbolik: Der Curlew (eine Bezeichnung für den Brachvogel in den Mooren von Brittens Heimat) fließt von West nach Ost, aus dem Dunkel ins Licht, von Europa nach Ostasien. Der Fährmann erinnert an Charon, der die Toten über den Grenzfluss zur Unterwelt führt. Über dem Grab wächst eine Eibe, ein Symbol ewigen Lebens. Und der Fluss fließt ins Meer, in buddhistischer Vorstellung das erlösende Ziel eines langen Weges.

In Gelsenkirchen tat Regisseur Carsten Kirchmeier gut daran, das Spiel in seiner kargen Einfachheit nicht durch inszenierten Subtext aufzuladen. In den schlichten Kostümen von Karin Gottschalk schreiten die Mönche durch den dunklen Kirchenraum zur Altarinsel; drei von ihnen schälen sich aus den Kutten und verkörpern den Reisenden, den Fährmann und Madwoman, die verrückte Frau. Alle Rollen werden in japanischer wie christlicher Tradition von Männern dargestellt: Adam Temple-Smith singt mit abgerundetem Timbre und schärfenfreier Höhensicherheit die in der Uraufführung 1964 Brittens Partner Peter Pears zugedachte Rolle der Madwoman. Petro Ostapenko trifft als Ferryman den Duktus des Erzählers ebenso wie die dynamischen Momente, in denen er als Akteur handelt. Urban Malmberg gibt dem Traveller sonore Ruhe und Würde. Michael Heine eröffnet das Spiel als Abt, der auf die Rettung der Verlorenen und Gefallenen durch den Herrn hinweist und damit den springenden Punkt der Parabel bereits vorwegnimmt. Die überirdische Geisterstimme kommt von Dongmin Lee.

In Chor und Orchester verbinden sich archaische westliche und fernöstliche Anklänge: ungenau synchronisierte melodische Linien im Chor (Einstudierung: Alexander Eberle), modale Melodie-Elemente, die auch an alte englische Kirchenmusik erinnern, Toncluster, die etwa die Orgel schwebend fremdartig klingen lassen, variantenreiches Schlagzeug mit Glocken, chinesischen Trommeln, einem japanischen Gong und dazu ein bisweilen perkussiv-rhythmisch eingesetzter Kontrabass. Auch die Flöte im siebenköpfigen Orchester ist mit Flatterzunge und Glissandi in die Nähe japanischer Instrumente gerückt.

Für die Synchronisierung im Kirchenraum sorgt Peter Kattermann; ein Dirigent ist von Britten nicht vorgesehen. Patrick Fuchs beleuchtet den Kirchenraum sparsam und sachlich, lediglich bei der vokalen Erscheinung des toten Knaben erglüht ein intensives, helles Blau. Der Stil der Musik zwischen Deklamation, Choral und exotischer Klanglichkeit, die intensive Langsamkeit und der undramatisch geschehnislose Fluss der Handlung fordern den heutigen, an rasche und sinnlich aufreizende Szenenfolgen gewöhnten Zuschauer heraus, versetzen aber auch in eine meditative Stimmung, die freilich durch die rückenstrapazierenden Kirchenbänke immer wieder gestört wird.

Werner Häußner

 

 

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