Gaetano d Espinosa: Meine Zeit mit Richard Wagners Musik in Japan in der Mitte der pandemischen Zeit ( Jan . Feb. 2022)
Wenn man als italienischer Wahldresdner zwei Wochen in Japan verbringt, dann ist man ein Gastkünstler.
Wenn man jedes Jahr, oder fast jedes Jahr, drei bis fünf Wochen in dem Land verbringt, dann ist man ein möglicherweise gern gesehener Gast.
Wie jedoch wird man gesehen, wenn man vier Monate in Japan verbringt und zwar ausgerechnet während einer Zeit, als die diplomatischen Vertreter der jeweiligen Länder so gut wie die einzigen Ausländer waren, denen die Grenzen des Kaiserreiches offenstanden?
2022, fast 170 Jahren nach der Öffnung Japans, war das Land für einige Monate wieder vollkommen geschlossen. Für die wenigen privilegierten im Land war das eine Zeitreise, denn etwas vom geschlossenen, unerreichbaren alten Japan war zu spüren. Dieser einzigartige Einblick in die japanische Seele war für mich mit dem sehnlichsten Wunsch verbunden, mehr zu erfahren.
Ich sprang während dieser Zeit am New National Theatre Tokyo mit dem NHK Symphony Orchestra für James Conlon ein, dirigierte dabei viele der bekanntesten Werke aus Oper und Konzert.Das mir jedoch wichtigste Projekt war „Der Fliegende Holländer“ von Richard Wagner, die für mich erste, komplett szenisch dirigierte Wagneroper.
Ausgerechnet in Japan begegnete mir diese Figur des Holländer, der gestrandete Ausländer, der sowohl glänzende Gaben, als auch eine belastende Vergangenheit hat, sowie eine ermüdende und verzweifelte Sehnsucht nach einem richtigen Neuanfang.
Der Holländer und seine Mannschaft verkörpern unter anderem die unbezwingbare Natur und alles was höher ist als menschliche Strukturen und Organisationen. Sie verkörpern all das, was eine handlungsfähige und willenstarke Menschengruppe in Sekunden einäschern könnte, einen Alptraum also, ein unkontrollierbares Ungeheuer, ein memento mori.
Die Musik Wagners sprengt Grenzen, sie wirbelt, sucht verzweifelt und fegt geordnete, heitere Welten weg. Keine Regierung, keine Inselstaatlichkeit, keine gesellschaftliche Geschlossenheit schützt vor dem titanischen Erscheinen dieses Einzelnen.
Was macht diesen fliegenden und herumirrend suchenden Holländer aus? Sein Schiff birgt eine reiche Schatzkammer, doch er sehnt sich nach Liebe und Geborgenheit, nach Zugehörigkeit.
Sein Reichtum sichert ihm Bewunderung, doch sein Leid und sein Sehnen die Tränen ganzer Völker. Jeder wünscht sich die Reichtümer des Holländer und fürchtet zugleich die damit verbundenen Leiden. Die Erlösung kann nur durch eine Frau geschehen, die bereit ist, sich für ihn in den Tod zu stürzen. Die Rettung kann nicht geschehen, ohne die Grenzen des sehnlichst Erwünschten zu erkennen.
Der Holländer erzählt in der verzweifelten Erkennungsszene, kurz vor Ende der Oper, wie oft diese Geschichte, diese missglückte Erlösung schon stattgefunden hat. Wagners Komposition der Gesangsstimme enthält hier so viel Energie und Ausweglosigkeit auf engstem Raum, dass es, wie Kirkegaard treffend beschreibt, als eine revolutionäre Wiederentdeckung des Einzelnen bezeichnet werden kann.
Wie geht ein Wagneropernbesucher aus Japan mit dieser Musik und ihren Fragen um? Oft sind die sich lange verschließenden Geister die begeisterungsfähigsten, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen.
Japan hat immer wieder den Rest der Welt in Erstaunen gesetzt, nicht nur durch den unbegreifbar langen und bei weitem nicht abgeschlossenen Weg zu einer offenen Gesellschaft.
Das heutige Japan kann in seiner modernen, komplexen und ambivalenten Einzigartigkeit bereits auf eine richtige Wagnertradition zurückblicken. Auch wenn Wagners Musik auf die japanische Gesellschaft weitaus großen Einfluss hat, gilt sie weiterhin immer noch als für nicht viele konsumierbares Kulturgut, obwohl doch gerade Wagner das Potenzial hätte, junge und frische Kräfte in Japan zu sensibilisieren und zu erwecken.
Wagner zeigt, mehr als vielleicht jeder andere Komponist des Neunzehnten Jahrhunderts, den Ursprung des Schöpferischen an sich.
Das, womit sich die westliche Welt Jahrezehnte lang zu beschäftigen und zu versöhnen hatte, ist in Japan noch heute mit Herausforderungen verbunden. Gewissermaßen ist Wagners Musik in Japan ein Stück zeitgenössischer als in Europa.
Die Entdeckung des Einzelnen geht im christlichen Verständnis auf den Erlöser Jesus Christus zurück und die griechische Wiedergeburt ist, so beschreibt Wagner jedenfalls eine christliche Wiedergeburt, ist ein neuer Kontext für die ewigen Fragen des Lebens, der alle Bereiche des menschlichen Denkens zu erobern versucht.
Als der US-Admiral Perry für sein ehrgeiziges Land die Öffnung zweier wichtiger Häfen und somit eine Handelsmöglichkeit mit Japan erreichen konnte, schrieb man das Jahr 1854. Die Grundsteinlegung des offenen, modernen Japans fiel ungefähr mit dem Anfang der langen Arbeit am „Ring der Nibelungen“ zusammen, die Wagner wenige Jahre nach der Premiere des Lohengrin als eine jahrzehntlange Reise antritt.
Zur gleichen Zeit begibt sich Japan unter großen Widerständen auf eine andere, nicht minder zukunftsweisende Reise.
Das isolierte Kaiserreich öffnet sich der westlichen Welt. Im Jahre 1867, zwei Jahre vor der Uraufführung des Rheingold, besteigt Kaiser Meji den Chrysanthementhron, dieser Herrscher drückt mächtig aufs Gaspedal, er verändert alles, als Erstes seine eigene Stellung im Land.
Aus dem politisch machtlosen Kaiser der japanischen Tradition, wird ein Herrscher à la Zar Peter der Große, der mit ähnlicher Willensstärke und Beharrlichkeit eine Politik betreibt, die Japan im Eiltempo zum fortschrittlichsten Staat Asiens macht.
Ablichtungen des Kaisers zeigen den resoluten Monarchen nicht im Kimono, sondern in einer militärischen Paradeuniform und von Weitem könnte man ihn für einen Cousin von König Edward, Zar Nikolai oder Kaiser Wilhelm halten.
Als im Jahre 1900 der Boxeraufstand zwischen den Kolonialmächten und dem Kaiserreich China entflammt, belegt Japan bereits einen Platz unter den Ersten, und 1905 ist der Inselstaat sogar im Stande, sich gegen die etablierte europäische Grossmacht Russland militärisch zu behaupten.
Beide Ereignisse tragen zum Sturz der Kaiserreiche bei, indirekt auch zu dem kaum jüngeren Ende der Kaiserreiche Deutschland und Österreich-Ungarn.
Georg der VI von England gibt seinen Kaisertitel nach der indischen Unabhängigkeitserklärung ab, seine Tochter, Königin Elisabeth, wird ihn nicht erben und so ist der jetztige Kaiser Naruhito der einizige Monarch eines entwickelten Landes im Rang eines Caesars. Japan, welches gerade noch wie ein schüchternes Kind die Grundschule der internationalen Beziehungen, sozusagen die erste Klasse betreten hatte, kann mittlerweile den erfahrensten Professoren Unterricht erteilen und dreht kräftig mit am Rad der Weltgeschichte.
Trotzdem muss man noch bis 1926 warten, bis Japan ein Orchester erhält, das im Stande ist, die Werke des Meisters von Bayreuth zu Gehör zu bringen.
Mari Moya, die ich schon von verschiedenen Produktionen in Japan kenne und bereits die Madama Butterfly unter meiner Leitung in Dresden sang, lockte mich zu einem Besuch des Noh-Theaterstücks Karozuka.
Dieses Stück hat eine so klare Dramaturgie und die Charaktere sind so prägnant, dass man, selbst ohne ein Wort zu verstehen, einiges mitnimmt.
Der Besuch dieses Noh-Theaterstücks ließ mich fühlen, was wahrscheinlich ein Japaner in einer Wagneroper fühlt. Worum genau geht es im Stück Karozuka?
Ein erfahrener Mönch, ähnlich wie der fliegende Holländer, verliert sich mit seinem Gefolge in einer unbewohnten Gegend. Der einzig dort lebende Mensch ist eine alte Frau, die nach viel Widerstand den Reisenden ein Dach bietet, unter der Bedingung, nicht ihr geheimnissvolles Bettzimmer zu betreten. Die Konversation mit der Gastgeberin erscheint selbst dem weisen Mönch eine Quelle von Inspiration, Faszination, diese Eremitin scheint einen Schatz an Weisheit und Tiefe zu besitzen, die auch das Publikum in den Bann zieht.
Ein unbeherrschter, jüngerer Schüler aus dem Gefolge kann sich jedoch nicht beherrschen und öffnet die Tür zum Schlafzimmer: er endeckt viele Leichen, die Opfer dieser weisen Frau waren.
Die Hausbesitzerin kommt als Hexe zurück, wird jedoch von den Gebeten der Geistlichen besiegt, die Hexe verschwindet, vergeht ins Nichts.
Dieses Finale erschien mir, nach dem fesselnden Spannungsaufbau des ersten Teils sehr unbefriedigend.
Ich erklärte mir das mit dem asiatischen Streben nach Harmonie, welche ein Aufnimmerwiedersehen-Verschwinden grundsätzlich immer einem Konflikt vorzieht.
Manche Türen und Grenzen sollten eben lieber geschlossen bleiben. „Nie sollst Du mich befragen“, da war er wieder, unser Richard Wagner, bei ihm wagt immer wieder jemand den Sprung. Die Heldin Senta springt ins Meer, Elsa stellt die Frage und Lohengrin wäre sowieso ein Jahr später gegangen.
Die japanische Kultur scheint den Zustand vor der Ursünde darstellen zu wollen. Umso größer und umso mehr Achtung verdienen die großen Persönlichkeiten Japans, die einen Sprung gewagt haben: Kaiser Meji oder Seji Ozawa und Mitsuko Uchida.
Die Balance zwischen diesen verschiedenen Welten ist eine der großen Herausforderungen der Zeit, nicht nur für Japan, sondern für die gesamte Menschheit.
Richard Wagner bewegte sich zwischen all diesen menschlichen Charaktereigenschaften, war ein Held des Empfindens, aber auch ein Gesetzesbrecher, der beispielsweise seine Hotelrechnung in meiner Heimatstadt Palermo nie bezahlt hat.
Wagner war immer beides: ein Prophet und ein Dieb, ein Revolutionärer und ein Reaktionärer, ein Monarchist und ein Anarchist, ein Eremit und ein Wüstling: in jeder Hinsicht eine echte Zumutung des Menschseins und seine Musik eine der erfahrensten Reiseführer auf dem Weg zu uns selbst.
Gaetano d Espinosa