Freiburg:„LOVE LIFE“ – Musical von Kurt Weill am 14.1. 2018 (DEA)
„So kann Musical auch sein!“ Diese Erkenntnis – angesiedelt zwischen Erstaunen und Bewunderung – war 1948 die Reaktion des späteren Musical-Komponisten Stephen Sondheim (1920) und des künftigen Musical-Regisseurs Harold Prince (Jg. 1918) auf den Besuch von Kurt Weills Musical „Love Life“. Das altmodisch-ironisch als „Vaudeville“ betitelte Stück war damals offensichtlich seiner Zeit voraus, und der Publikumserfolg hielt sich mit 252 Aufführungen in Grenzen. Zu einer Schallplattenaufnahme kam es nicht mehr, denn die Tontechniker streikten gerade. „Love Life“ verschwand von der Bühne und aus der allgemeinen Erinnerung.
Unter Insidern wie Sondheim und Prince lebte das Stück weiter. Ab und an finden sich Spuren: Cole Porters Musical „Kiss me Kate“ von 1953 folgt in der Verschränkung zweier Handlungsebenen dem, was der Weill-Experte Stephen Hinton „kontrapunktische Dramaturgie“ nennt, und der daraus stammende Song „Brush up your Shakespeare“ („Schlag nach bei Shakespeare“) hat große Ähnlichkeiten mit Weills „Mother‘s getting nervous“ („Mutter kriegt ‘ne Krise“) aus „Love Life“. Und den Text des Duetts „I remember it well“ („Ich erinnere mich gut“) brachte Weills LibrettistAlan J. Lerner 10 Jahre später in den Musical-Film „Gigi“ ein, zu dem Frederick Loewe die Musik schrieb. Heute sieht die Wissenschaft in Weills und Lerners „Love Life“ und Rodgers‘ und Hammersteins „Allegro“ (1947) die ersten anspruchsvollen „Concept Musicals“. Dass es Weills Stück, anders als inzwischen seine Broadway-Oper „Street Scene“, bislang nicht auf die deutschsprachigen Bühnen geschafft hat, ist da schon erstaunlich. (Ich persönlich warte darauf, seit ich 1988 in New York bei der Kurt Weill Foundation Videoaufnahmen der Musikhochschul-Produktion von 1986 an der Universität Michigan gesehen habe.)
Gründe für die Zurückhaltung gibt es viele. Da ist immer noch das alte Klischee, der Weill der „Dreigroschenoper“ habe sich in den USA an den Broadway verkauft. Da ist die Tatsache, dass die deutsche Weill-Renaissance nach dem 2. Weltkrieg einherging mit der Brecht-Rezeption und damit den Fokus verengte. Da ist die überkommene Bequemlichkeit vieler Regisseure und Dramaturgen in Sachen Repertoire, aber auch die Furcht der Bühnen vor der strengen Kurt Weill Foundation in New York, und auf der anderen Seite die – nicht ganz unverständliche – Skepsis der Weill-Erben gegenüber der deutschen Theaterlandschaft und -praxis. Dazu kam – bis vor wenigen Wochen – auch noch das Fehlen einer zuverlässigen Notenausgabe von „Love Life“. Im Jahr 2000 allerdings wagte sich schon einmal ein Team der Berliner Hochschule der Künste an den „Tryout einer deutschen Erstaufführung“. Bei dieser Produktion, die 2001 im Rahmen des Kurt-Weill-Festes in Bitterfeld gastierte, war das Potential des Stückes deutlich zu spüren, aber niemand „biss an“. Nur der eine oder andere Song irrlichterte mitunter durch die Liederabende.
Es ist vor allem Rüdiger Bering zu danken, seinerzeit Dramaturg der Berliner Produktion und nun Chefdramaturg am Theater Freiburg, dass es nun endlich zur offiziellen deutschen Erstaufführung gekommen ist – unterstützt durch die frisch erschienene und knapp eingetroffene Notenedition der Kurt Weill Foundation und auch durch deren Herausgeber Joel Galand persönlich. Bering hat „Love Life“ über Jahrzehnte nicht aus den Augen und den Ohren verloren, er hat über die Hintergründe geforscht und dabei auch Harold Prince die eingangs zitierte Erinnerung entlockt (nachzuhören in einem 12-Minuten-Beitrag des Westdeutschen Rundfunks in Köln vom 14.12.2017), und er hat vor allem das Stück so ins Deutsche übersetzt, dass der Witz der Dialoge und der Songtexte erhalten bleibt. Das ist auch an diesem Sonntagnachmittag in Freiburg zu spüren – dank Übertitelung auch dann, wenn sich ab und an einer der vielbeschäftigten Darsteller verhaspelt.
So kann Musical auch sein! Weills und Lerners Idee einer Zeitreise über 150 Jahre, in der sich anhand der kaum alternden Familie Cooper der Einfluss der gesellschaftlichen Entwicklung auf das Zusammenleben in Ehe und Familie zeigt, ist nach wie vor spannend und hochaktuell. Die Idee von Regisseur Joan Anton Rechi und Bühnenbildner Alfons Flores, das Szenario in eine Art Kinosaal zu verlegen und etliche Szenen mit Videoeinblendungen bekannter Filmszenen zu begleiten, überzeugt mich allerdings weniger. Denn in „Love Life“ steckt – dank der alten Gattungen „Vaudeville“ und „Minstrel Show“ – mehr die Shakespeare‘sche Wanderbühne als die Traumfabrik von Hollywood (von der der der Komponist Weill sich im übrigen nicht schlucken lassen wollte). Ein Publikum, dem naturgemäß schon die amerikanische Einfärbung der Musik auffällt, wird durch Filmausschnitte wie „Vom Winde verweht“ oder die Figurenzitate aus „Der Zauberer von Oz“ in der Eingangs- und Abschlussszene noch weiter in das USA-Klischee geführt, während es doch letztlich um eine allgemeineEntwicklung der westlichen Industriegesellschaft geht. Gar nicht glücklich bin ich mit der Einblendung surrealistischer Filmszenen zur Madrigal-Parodie „Ho, Billy, oh“. Ob letztere nun eher die psychoanalytisch übertherapierte New Yorker Bildungsschicht oder die heile Welt der Alte-Musik-Bewegung aufs Korn nimmt oder gar beides, scheint mir noch die Frage. Allemal schieben sich aber die bewegten Bilder störend über den textlichen und musikalischen Witz der Komposition.
Rebecca Jo Loeb, Freiburger Erstbesetzung der Susan Cooper, erklärt in der zitierten Radiosendung, sie empfinde „Love Life“ als amerikanisches Stück mit einer dunklen europäischen Färbung. Letztere zeigt sich nicht nur in der sehr intellektuellen Madrigal-Anspielung, sondern in der ganzen Anlage des Werkes. Im Wechsel der Familienszenen mit anspielungsreichen Unterhaltungsszenen entdecke ich eine Weiterentwicklung der anspruchsvollen Berliner Handlungsrevue aus den frühen 1930er Jahren und in den witzigen Reimen ein Echo der großen Operetten- und Kabarettdichter der europäischen Zwischenkriegszeit (wie Marcellus Schiffer oder Fritz Löhner-Beda). Den anspielungsreichen „dramaturgischen Kontrapunkt“ zwischen Spielhandlung und Kommentar hat Weill schon 1926 in seinem Einakter „Der Protagonist“ eingeführt. Die Einbindung von Tanzsätzen und die Mischung charakteristischer Stile von Country und Blues bis hin zu Musical, Oper und Wiener Operette (bei Miss Märchenprinz) in „Love Life“ ist schon vorgeformt in der „Mahagonny“-Oper, bei der sich Foxtrott und Trauermarsch, Bach‘sches Choralvorspiel und Wiener Heurigenmusik „auf Augenhöhe“ begegnen. Die Tanznummer „Punch und Judy lassen sich scheiden“ zitiert schließlich den „Barbarischen Marsch“ aus der 1931 entstandenen Oper „Die Bürgschaft“ – eine Anspielung, die allenfalls Weills Ehefrau Lotte Lenya erkannt haben dürfte. Maria Pires und Graham Smith liefern hier eine abwechslungsreiche Tanzszene, in der auf witzige Weise immer der Wechsel von Anziehung und Abstoßung deutlich wird, der auch die Ehe von Weill und Lenya prägte. Dass „Love Life“ über weite Strecken dennoch anders tönt als „Dreigroschenoper“ oder „Mahagonny“, ist bei 20 Jahren Abstand (einschließlich erzwungener Emigration) völlig natürlich. Verdis „Otello“ etwa klingt auch nicht wie „Rigoletto“, und Wagners „Parsifal“ nicht wie der „Tannhäuser“.
Trotz der fragwürdigen filmischen Übermalung gelingen Regisseur Rechi und den beiden Choreografen Emma-Louise Jordan und Graham Smith ganz viele Szenen dieser Aufführung erstaunlich gut. Geglückte Ideen wie die Western-Parodie vor dem ersten Gang des einst selbstständigen Handwerkers Samuel Cooper in die Fabrik oder die meilenweite Autofahrt der auseinanderfallenden Familie in die Vorstadt zeigen, wie die zunächst einmal typisch amerikanische Entwicklung immer globalere Züge annimmt und stärker an uns heranrückt. Unzählige Einzeldarsteller und der Opernchor verschmelzen immer wieder neu zu den verschiedensten Klein- und Großgruppen; und demgegenüber, was Merker-Kollegin Alice Matheson in der Premiere noch beobachtete, scheint mit dem Spaß an der Sache auch die Sicherheit in der Bewegung deutlich gewachsen zu sein. Vom 1. Kapellmeister Daniel Carter hat an diesem Nachmittag Johannes Knapp das Dirigat übernommen, und er führt das Philharmonische Orchester Freiburg souverän durch die vielgestaltige Partitur.
Ihre Premiere als Susan Cooper feiert Ulrike Hallas. Den vielen sängerischen und darstellerischen Facetten dieser erstaunlich differenzierten Frauenfigur verleiht sie immer wieder eine beachtliche Präsenz. Zusammen mit ihrem Partner David Arnsperger (Samuel Cooper)findet sie sich am Ende in der Illusionswelt einer Minstrel Show wieder, die stark an heutige Talkshows mit ihren illustren Gästen aus der Glitzerwelt erinnert. Samuel, der von daheim ausgezogen ist, hat die Ernüchterung schon hinter sich; Susan hingegen träumt noch von Mr. Right – Strophe um Strophe – und will mit dieser Nummer gar nicht aufhören, obwohl der Talkmaster (Tim Al-Windawe als Conferencier) gerne im Programm weitermachen möchte. Die Erkenntnis, dass es Mr. Right gar nicht gibt, kommt für sie ernüchternd, ganz ohne Musik. Es folgt der buchstäbliche Drahtseilakt: Susan und Samuel versuchen es noch einmal miteinander, und hier kommt die Video-Leinwand wirklich zu ihrem Recht. Am Ende sitzen die beiden mit den Kindern (Timon Roosen und Anne Langer) beieinander. Das echte Ende ist eher offen – trotz der suggestiven Film-Einblendung „The End“.
Andreas Hauff