Freiberg: „PIQUE DAME“ – 28. 4. 2015
Tschaikowskis Meisteroper „Pique Dame“ in den Spielplan aufzunehmen, kam für das Mittelsächsische Theater einem Wagnis gleich, stellt das Werk doch außerordentliche Anforderungen an die Interpreten. Gleichzeitig bedeutete diese Entscheidung für breite Publikumsschichten Neuland, da diese Oper m. E. bislang weder in Döbeln noch in Freiberg gegeben wurde. Angesichts des überaus herzlichen Beifalls am Ende der von mir besuchten Seniorenvorstellung dürfte sich der Wagemut der Leitung des Hauses ausgezahlt haben. Leider wird die Inszenierung nicht in die nächste Spielzeit übernommen.
Schon die einleitenden Takte der Introduktion ließen aufhorchen. Der satte elegische Klang der Streicher und die ihm prächtig assistierenden Holzbläser verhießen in solcher Qualität selten Vernommenes, eine Verheißung, die sich im weiteren Verlauf der Aufführung auf das Vorzüglichste erfüllte. Ohne Übertreibung kann man sagen: Mit dieser Tschaikowski-Interpretation setzte GMD Raoul Grüneis ein Herzensanliegen in die höchst anerkennenswerte Tat um. Denn auch in den gewaltigen orchestralen Steigerungen des Vorspiels geriet nicht ein Ton aus dem Ruder, war Blech und Schlagwerk in ihren faszinierenden Tutti ein großer Tag zu bescheinigen. Grüneis animierte eben nicht zu einem pastosen Lärm, sondern meißelte das verzweifelte Aufbäumen eines an sich und der Welt verzweifelnden Menschen in überwältigende klangliche Gestalt. Diesem hohen künstlerischen Anspruch blieben er und die Mittelsächsische Philharmonie während der gesamten Aufführung treu. Die von Alexander Livenson einstudierten Chöre versuchten, dem Ebenbürtiges an die Seite zu stellen, und konnten diesem Vorsatz, abgesehen von den nicht durchweg homogen zu vernehmenden Damen, im Großen und Ganzen gerecht werden.
Regisseur Ralf-Peter Schulze legte mit dieser Arbeit seine bisher gelungenste Inszenierung für das Musiktheater des von ihm geleiteten Hauses vor. Und obschon er die „Oper in eine mögliche Gegenwart holt“, sich „Zeitnähe und Aktualität nicht verschließt“, besitzt das zu besichtigende Ergebnis seine Meriten. Freilich kommt dem Adel heutzutage maximal sekundäre Bedeutung zu, nehmen sich die Erinnerungen der Gräfin an ihre Jugend im vorrevolutionären Frankreich reichlich deplatziert aus, entbehrt manches Detail der inneren Logik. Schulze begegnet solchen Einwänden mit dem Argument:“Simultane Handlungsabläufe wurden erarbeitet, die Räume durchdringen sich, verändern sich, sind aber im Kopf von Hermann real. Spielorte, Realität und Phantasie fließen ineinander.“ Diesen Gedankengängen und deren Umsetzung zu folgen, bereitet jedoch dem mit der Oper weniger Vertrauten gewiss einiges Kopfzerbrechen. Immerhin fand Tilo Staudte (Gesamtausstattung) eine die Konzeption bestens bedienende szenische Lösung. Und wer Schulze beipflichtet, fragt dann auch nicht, weshalb sich Hermanns Pistole an das Newa-Ufer verirrt hat, warum Lisa dieselbe an sich nimmt und trotzdem auf den Suizid verzichtet, sondern den sterbenden Hermann liebevoll in ihren Schoß bettet. Den begrenzten Möglichkeiten des Hauses waren einige, selbst von größeren Bühnen gern praktizierte Striche (die den 1. Akt eröffnende Promenade mit den exerzierenden Knaben, das musikalisch reizvolle Schäferspiel oder die Huldigung an die Zarin) geschuldet.
Für die an extremen Anforderungen reiche Partie des Hermann, dessen Gewand allerdings kaum Assoziationen an einen Offizier erweckte, war mit dem türkischen Sänger Ünüsan Kuloglu ein tenorales Schwergewicht verpflichtet worden, das über eine phänomenale „Röhre“ verfügt, dank deren Hilfe er mühelos das Orchester übertönte, der ohne Abstriche vorhandenen Höhe müsste er noch das gewisse Quäntchen an Glanz und Strahlkraft beimengen. Den verzweifelnden, sich in die Spielwut flüchtenden Anti-Helden bekam er darstellerisch hervorragend in den Griff, den stürmisch um Lisas Zuneigung Ringenden eher dezent andeutend. Leonora del Rio nahm man die unglückselige Enkelin der Gräfin ohne jede Einschränkung ab. Wie sich dieses Menschenkind einer „guten Partie“ verweigert, mit welch bedingungsloser Leidenschaft diese Lisa um den geliebten Mann ringt – das alles fand in der emotional fesselnden Auffassung der Sängerin tief berührenden Ausdruck. Wiederum spricht das aparte Timbre ihres souverän eingesetzten jugendlich-lyrischen Soprans ungemein an, und selbst wenn man sich diesen oder jenen Spitzenton u.U. noch ein wenig runder geformt vorstellen könnte, grenzt ein derartiger Einwand an Beckmesserei. In der Rolle der Polina gefiel der klangschöne Mezzo Barbora Fritschers, leider beeinträchtigt deren Hang, nicht einmal exponierte Höhen grundsätzlich im Forte zu präsentieren, diesen positiven Eindruck. Die Gräfin wurde einer „Freiberger Institution“, der langjährigen ersten Sopranistin Rita Zaworka, anvertraut, die, im späten Herbst ihrer Laufbahn, für ihre Aufgabe einerseits die gespenstisch-fahlen stimmlischen Mittel einbrachte, andererseits das Gretry-Chanson mit beispielhaften Piano-Nuancen anreicherte. Chapeau! In Ermangelung eines Helden-oder Charakterbaritons übernahm der spielfreudige Sergio Raonic Lukovic den Tomski, meisterte die geforderten Höhen zufriedenstellend, ohne darüber hinwegzutäuschen, dass sein eigentliches Metier nun einmal das tiefere Stimmfach ist. Für den in der Liebe glücklosen Jeletzki setzte Guido Kunze seine solide Technik ein. Jens Winkelmann (Tschekalinski) und Martin Gäbler (Surin) ergänzten mit stimmigen Charakterstudien.
Joachim Weise