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FRANKFURT/ Bockenheimer Depot: PAUL BUNYAN von Benjamin Britten – Premiere

14.10.2016 | Operette/Musical

FRANKFURT / BOCKENHEIMER DEPOT: PAUL BUNYAN von Benjamin Britten – Premiere
am 12.10. 2016 (Werner Häußner)

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Tanz auf der Dose: Johannes Leiackers attraktive Bühne für Brigitte Fassbaenders kluge Regie von Benjamin Brittens „Paul Bunyan“, hier eine Szene mit Michael McCown (Inkslinger) und Ensemble. Foto: Barbara Aumüller

Was für eine Vielfalt! An der Oper Frankfurt ließsich in den ersten Wochen der neuen Spielzeit nicht nur die ungewöhnliche „Carmen“ Barrie Koskys, ein gediegener „Falstaff“ und demnächst die Verdi-Rarität „Stiffelio“ besichtigen. Das Große Haus eröffnete den Premierenreigen mit einer Deutschen Erstaufführung, Andrea Lorenzo Scartazzinis „Der Sandmann“ – vor vier Jahren in Basel uraufgeführt. Und im Bockenheimer Depot, einer gründerzeitlichen Straßenbahn-Remise, wird Benjamin Brittens „Paul Bunyan“ neu inszeniert.

Die 1941 uraufgeführte amerikanische Operette thematisiert einen spezifischen Aspekt eines „american dream“, die mythische Figur eines riesenhaften Holzfällers, entstanden aus phantasiereichen Erzählungen von Waldarbeitern und Holzfällern und zu Beginn des 20. Jahrhunderts popularisiert durch einen Journalisten und eine Werbekampagne. Ein Typ, der anpackt, der sich nicht unterkriegen lässt, der die Natur zähmt, bearbeitet und für die Verwertung zubereitet.

Das sehr spezifische Thema dürfte auch das entscheidende Hindernis für die Rezeption des Werkes sein: Der Zuschauer muss schon sehr vertraut sein mit der säkularen amerikanische Mythologie des Super-Helden, mit dem Kolonisten-Optimismus der Gesellschaft und mit Klischees amerikanischer Populärerzählungen, um die Geschichte um den gigantischen Holzfäller – und die leise Ironie des Librettos von Wystan Hugh Auden – attraktiv zu finden.

Brigitte Fassbaender hat in ihrer Regie kluge Brücken gebaut und das Stück damit kurzweilig und vielschichtig erzählt. Ein riesiger, schrundiger Baum verdeckt zunächst die Bühne, bis das Licht die Spielfläche Johannes Leiackers freigibt: ein Haufen löcheriger, zerbeulter Campbell’s Konservendosen (ein amerikanischer Konsum- und seit Andy Warhol auch ein Kunst-Mythos). Paul Bunyan selbst bleibt körperlos; er manifestiert sie wie eine quasi-göttliche Stimme aus dem Irgendwo, mit wissender Ironie gesprochen von Nathaniel Webster. Zu sehen ist nur ein Mund, auf den Riesenstamm projiziert, mit blendend weißem Trump-Gebiss.

In den Kostümen Bettina Münzers wird das amerikanische Cowboy-Klischee ebenso zitiert wie Bunnies aus der Show oder Tiere aus dem Comic. Zwei unverfrorene Katzen – Julia Dawson und Cecelia Hall – tragen Mäusebälger als Handtaschen und singen lapidar-frivole Duette, aber ihre Kleidchen erinnern an Hausfrauen-Kittelschürzen. Sebastian Geyer verkörpert mit der Figur des Hel Henson den wortkargen Macho, dem man gerne abnimmt, dass er erst schießt und dann denkt.

Die vielleicht spannendste Person aus Brittens groß besetztem Werk ist Johnny Inkslinger: ein Intellektueller, der sich zunächst um Geld und materielle Absicherung nicht schert. Doch auch er muss essen, und die pure Notwendigkeit macht ihn von Paul Bunyan abhängig: Er muss sich als Buchhalter verdingen und wird schließlich, als er den geisttötenden Job hinter sich lassen will, nach „Hollywood“ gelockt. Michael McCown macht deutlich, wie ein unabhängiger Geist seine Autonomie verliert. In der Unterhaltungsindustrie wirkt der frei sich wähnende Geist effektiv im Dienst kapitalistischer Verwertung. Brittens Blick auf das Amerika der Weltkriegszeit dürfte nicht zuletzt seinem eigenen und dem Schicksal anderer europäischer Komponistenkollegen geschuldet sein.

Einer dieser Kollege war Kurt Weill – und Brittens „Paul Bunyan“ erinnert streckenweise an die lehrstückhaften Werke aus Weills amerikanischer Zeit, etwa den „braven Soldaten“ Johnny Johnson. Britten setzt als Zwischenspiele Balladen im Country-Stil ein, in Frankfurt stilsicher vorgetragen und selbst auf der Gitarre begleitet von Biber Herrmann, einem Folk- und Blues-Sänger und Songwriter aus dem Rhein-Main-Gebiet.

Brittens Musik, vom Orchester beweglich, rhythmisch sensibel und mit Sinn für die leuchtkräftigen Farben und subtilen Zwischentöne gespielt, hat in Dirigent Nikolai Petersen einen aufmerksamen Anwalt gefunden. Sie erinnert an Weill, Gershwin und Cole Porter, an anglikanische Kirchenhymnen und Gilbert-and-Sullivan-Couplets, an melancholische Blues-Balladen und kernigen Folk. Vor allem aber behält sie in ihrer ironischen Zuspitzung und ihrem humorvoll gebrochenen Blick auf die Vorbilder ihren unverwechselbaren Britten-Charakter. „Getriebe, die knirschen“, nannte Leonard Bernstein diesen vertraut-verfremdeten Stil – und „Paul Bunyan“ ist reich an gekonnten Beispielen dafür.

Von daher gehörte diese amerikanische Operette dann doch hin und wieder in die Spielpläne, vor allem dann, wenn sich das eine oder andere Haus auf seine Britten-„Zyklen“ oder die „Pflege“ seines Werkes etwas einbildet. Abgelegene Opern wie „Gloriana“ (vor Jahren in Gelsenkirchen), „Owen Wingrave“ (in Frankfurt und höchst gelungen am Theater Osnabrück) oder eben „Paul Bunyan“ eröffnen aufschlussreiche Blicke auf Brittens musikalische Kosmos und lassen sich, werden sie so wissend und bildmächtig inszeniert wie durch Brigitte Fassbaender in Frankfurt, auch dann verstehen, wenn der historische oder gesellschaftliche Background nicht mehr so unmittelbar einleuchtet wie etwa in „Peter Grimes“. Frankfurt erweitert damit seine Befassung mit Brittens Werk um eine faszinierende Facette.

Werner Häußner

 

 

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