Frankfurt / Alte Oper: „SEONG-JIN CHO-PHILHARMONIA ORCHESTRA-SANTTU-MATIAS ROUVALI“
Konzert zum Muttertag 08. Mai 2022
Rouvali mit seinem Orchester. Foto: Tibor Pluto
Zum Auftakt des konträren Konzert-Programms servierten das Philharmonia Orchestra unter der Leitung von Santtu-Matias Rouvali ein akustisches Glas Champagner nämlich die Ouvertüre zu „Semiramide“ von Gioacchino Rossini und ließ temperamentvoll die instrumentalen Korken knallen. Spitzig, flexibel, rhythmisch in bester Disposition präsentierte das englische Spitzenorchester die melodische Thematik des Werkes in federnd typischem Rossini-Klang. Ein vielversprechender Auftakt ließ Großes erahnen.
Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg waren eine Epoche der Tabubrüche und Skandale in Europas Musikszenen: Da ging 1913 Stravinskys Le sacre du printemps regelrecht in Tumulten unter, kurz davor hatte Arnold Schönberg in Wien mit dem Watschenkonzert negative Geschichte geschrieben, und nicht zuletzt provozierte Sergej Prokofjew in St. Peterburg mit seiner Skythischen Suite für einen noch nie dagewesenen Skandal. Dies war jedoch nicht sein Erster denn 1913 zur UA seines nun heute auf dem Programm stehen „Zweiten Klavierkonzerts“, verließ das Publikum in Scharen den Saal und ein Kritiker konterte über den Komponisten welcher den Part selbst übernahm: Er setzte sich ans Klavier und schien entweder die Tastatur abzustauben oder sie wie zufällig zu berühren – das noch verbliebene Publikum zischte empört. Prokofjew verbeugte sich, setzte sich und spielte ungerührt eine Zugabe.
Nun Dergleichen fand heute nicht statt, die Hörgewohnheiten der Musikliebhaber änderten sich während des letzten Jahrhunderts vorteilhaft. Die farbige Behandlung des Soloparts, die verbindliche Melodik Prokofjews trat als liebenswürdige Mischung in seinem Zweiten Klavierkonzert noch mehr in Erscheinung, hob die Eigenarten des kosmopolitischen Komponisten speziell hervor. Überwältigend virtuos, prachtvoll koloriert, mal romantisch, mal avantgardistisch ist dieser pianistische „Zankapfel“ ohnedies und gehört zweifellos zu den technisch schwierigsten seiner Art. Der Solist des Abends Seong-Jin Cho schien seinen Part genau zu kennen, spielte die Partitur souverän, malte regelrecht akustische expressionistische Bilder. Für wahr, Cho malte sie experimentell in bester funktionaler Mischung aus Tongestaltung und Timing. Der Kadenz im Andantino begegnete der junge Wahl-Berliner in umwerfender Bravour in ungemein sportlichem Gestus. Gilt doch diese Kadenz in der pianistischen Fachwelt als diffizilste der Literatur. Das Scherzo-Vivace offeriert seinen besonderen Reiz in der burlesken, kontinuierlichen Motorik des Ablaufs. Tonkaskaden, Tastenläufe in akkurat technischer Brillanz dargeboten prasselten dem Hörer in atemberaubender Präzision entgegen. Kam aus dem Staunen nicht heraus, da saß nun der smarte 28jährige Südkoreaner am Flügel, spielte in Noblesse ohne Faxen die Sterne vom Himmel, zündete ein Tasten-Feuerwerk nach dem andern und musizierte die Extrempartitur subtil und exzellent als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Chapeau!
In expressionistischen orchestralen Couleurs, rhythmisch präzise, vortrefflich disponiert und qualitativ hochwertig aufspielend begleitete das PO. unter Rouvalis umsichtiger Stabführung. Jubelschreie und helle Begeisterung des Publikums quittierten den berauschenden Vortrag und erhielt zum Dank eine traumhaft elegisch gespielte Zugabe. Die Blumen der AOF überreichte der bescheidene Pianist galant einer Violinistin.
Nach der Pause brachten die britischen Gäste die „Vierte Symphonie“ von Peter I. Tschaikowsky zu Gehör. Verbindet den Rezensenten zu diesem Werk eine besondere Affinität, erlebte sie dereinst als Konzert-Eleve erstmals beim Gastspiel der legendären „Leningrader Philharmoniker unter Mrawinskij und hinterließ so nachhaltig bleibende Eindrücke. Inzwischen dutzendfach mit internationalen Orchestern live erlebt, berührt dieses aufwühlende Werk noch immer und nimmt stets aufs Neue gefangen. Das einleitende Andante sostenuto enthält den Keim der ganzen Symphonie ohne Frage die Quintessenz, das Fatum, jene Schicksalsgewalt die unser Streben nach Glückseligkeit mindert, welche über unserem Haupte schwebt wie ein Damokles-Schwert, beständig unentwegt die Seele vergiftet. Jedoch spiegelt diese Musik alles Leid, ganz besonders die Psychalgie des des unglücklichen Komponisten wider. In präziser Artikulation formte Rouvali dank der hervorragend aufspielenden Blechfraktionen des Philharmonia Orchestras die wuchtigen Fanfaren, brennend grub sich die Elegie der Hoffnungslosigkeit ein, die instrumentalen Eruptionen unterstrichen ungezügelte Gewalten. Erschien so manche Sequenz etwas überproportioniert nahm man diese wuchtigen Klangmassen positiv als präzise gesteuerte Akkuratesse wahr. Jedoch immer wieder erklangen konträr Klänge von duftiger transparenter Leichtigkeit, dass ich wähnte, die Symphonie nie zuvor in dieser brillanten Konstellation gehört zu haben.
Emotional voller Wehmut erhob sich das Andante di Canzona in seinen süßherben melodischen Pathos, harmonisch vereinten sich Streicher, Holzbläser, in Steigerung das gesamte Instrumentarium zur bewegenden Formation. Ein Schwall von Erinnerungen brach herein, die Thematik symbolisierte eine Phase der Sehnsucht. Launige Arabesken, unfassbare Figurinen eröffneten in rasanten Zupftempi der Streicher das Scherzo Pizzicato ostinato, unterbrochen vom kecken Ruf der Flöten, flüchtige Visionen beflügelten die Phantasie, die Seele schien im Schwebezustand. Aus der Ferne erklang eine Militärparade in verwirrenden Bildern, völlig irreal erhob sie sich fremdartig beziehungslos.
Zu kontrollierten Tempi animierte der finnische einfühlsame Dirigent das prächtig aufspielende Orchester zum grandiosen finalen Allegro con fuoco, ließ Horn – und Blechkonturen im präzisen Gesamtapparat pompös erschallen, verlieh dem unermüdlichen Fatum kraftvolle Tiefenschärfe, führte so zum dimensionierten überwältigenden Ausklang des Epos.
In einem Jubelschrei suchte das elektrisierte Publikum Erlösung und feierte Rouvali und das Orchestra mit wachsender Begeisterung. Seinen Blumenstrauß warf der Dirigent schwungvoll ins vordere Parkett.
Gerhard Hoffmann