Ein Rausch aus Klangfarben und Poesie – Antonio Pappano entfesselt Berlioz in der Alten Oper
Public Viewing © Alte Oper Frankfurt/Wonge Bergmann
Schon die ersten Takte ließen aufhorchen – als hätte jemand den Vorhang zu einer anderen Welt aufgezogen. Kaum hatte Sir Antonio Pappano den Taktstock erhoben, vibrierte der Saal in gespannter Erwartung. Kein großes Pathos, keine demonstrative Geste – und doch war sofort klar: Hier würde etwas Besonderes geschehen. Was das London Symphony Orchestra (LSO) an diesem Abend in der Alten Oper Frankfurt entfaltete, war kein routiniertes Gastspiel, sondern eine musikalische Vergegenwärtigung im besten Sinne: atemberaubend präzise, beseelt, durchdrungen von Klangfantasie und gestalterischer Intelligenz. Man saß da, hörte – und vergaß Raum und Zeit.
Berlioz’ rauschhafte Visionen, Mozarts luzide Eleganz und das fiebrige Miteinander von Dirigent und Orchester verschmolzen zu einem Abend, der die Sinne elektrisierte und das Denken verzauberte. Dass draußen auf dem Opernplatz hunderte Zuhörer die Musik live mitverfolgten, verlieh dem Ereignis eine festliche Aura – doch das eigentliche Fest fand im Inneren statt: ein Fest des Hörens, des Fühlens, des musikalischen Erkennens.
Mit der Konzertouvertüre „Le Corsaire“ legte Pappano ein flammendes Plädoyer für Berlioz’ orchestrale Kunst vor. Schon der erste Einsatz der wuchtigen Streicher stürzte sich mit tänzerischer Wildheit ins Geschehen – kein bloßer Effekt, sondern ein federndes Vorwärtsdrängen, präzise artikuliert und doch organisch in die Gesamtbewegung eingebettet. Die Violinen entwarfen in glitzernden Figuren das maritim bewegte Fundament, über dem sich das LSO wie ein atmender Organismus spannte. Die doppelt geführten Kontrabässe glühten tiefschwarz im Untergrund, während die Hörner sich mit noblem Goldton in die Architektur der Musik einschrieben.
Pappano war kein impulsiver Antreiber, sondern ein wissender Gestalter mit weitem Atem. Er ließ Raum, modellierte Übergänge mit ziselierter Sorgfalt, legte aber stets einen dramaturgischen Zug in die Musik, der die Ouvertüre nicht zu einem funkelnden Einzelbild, sondern zu einem episch atmenden Tableau formte. Die feurigen Schlussakkorde – mit schneidenden Trompeten, grimmigem Posaunensatz und einem kraftvollen Zugriff der Pauken – wirkten wie entfesselte Windböen: meisterhaft kontrolliert, aber voller unbändiger Energie.
Großer Saal © Alte Oper Frankfurt/Tibor-Florestan Pluto
Mozarts fünftes A-Dur-Violinkonzert KV 219, das sogenannte „Türkische“, war an diesem Abend keine Verschnaufpause zwischen zwei Berlioz-Monolithen, sondern ein eigenständiger Farbpunkt – mit Lisa Batiashvili als Solistin. Mozart schrieb in seinem kurzen Leben fünf Violinkonzerte. Kaum zu glauben, dass er sich bereits mit 19 von dieser Gattung verabschiedete – dabei war ihm die Violine doch ein so nahes Instrument. Der Gesang auf ihr war ihm das Wichtigste. Schon die ersten Töne wirkten hell und intensiv: Batiashvili spielte mit makellosem Ansatz, farblich differenziert, stets getragen von innerer Wärme. Ihr Ton hatte einen feinen Schmelz in der Mittellage, silbrige Helligkeit in den Höhen und eine samtige Tiefe, die selbst in schnellen Passagen nie an Fülle verlor.
Sie wirkte gesammelt, ganz bei sich – spielte mit großer innerer Ruhe, ehe sie diese in Klang verwandelte. Ihre Phrasierung war sprechend ohne Aufdringlichkeit, der Bogenwechsel geschmeidig, geräuschlos, die Artikulation ausgewogen zwischen Kantabilität und tänzerischer Eleganz. Im ersten Satz wuchs der Dialog mit dem Orchester zu einem gespannten Miteinander, das nicht nur reagierte, sondern musikalisch argumentierte. Ihre Bögen waren weit, ihre Phrasierungen fein – zuweilen allzu dekorativ.
Einziger Kritikpunkt: Die Kadenz im ersten Satz – offenbar von der Solistin selbst – war, wie bei Lisa Batiashvili öfter zu hören, geprägt von experimentellen Reibungen, harmonischer Kühnheit und einem Hang zum Kontrast. Doch im Kontext dieser klanglich subtilen Aufführung wirkte sie wie ein stilistischer Fremdkörper: virtuos, originell, aber in ihrer Disharmonie spürbar entfernt von Mozarts Geist. Mozart hätte sich womöglich ein wenig im Grab gewunden.
Der langsame Satz geriet zur innigen Zwiesprache. Batiashvilis Ton schwebte beinahe körperlos durch den Raum – ein warmer Klangschimmer, über den die Holzbläser des LSO wie ein hauchzarter Samtvorhang geblasen wurden.
Im Finale zelebrierte sie das „Türkische“ nicht als exotischen Effekt, sondern als dramaturgische Zuspitzung: mit rasanten Tempowechseln und einem furiosen Schlusssatz, den sie mit tänzerischer Energie und kontrollierter Gelassenheit durchmaß. Es muss deutlich gesagt werden, dass es Pappano war, der dieses Konzert maßgeblich prägte. Er war mehr als ein aufmerksamer Partner – nie zu dominant, aber stets präsent, besonders im klanglichen Feinschliff der Begleitfiguren. Man hörte, wie sehr er es genoss, auf Augenhöhe mit seiner Solistin zu gestalten. Mit verblüffendem Spielwitz huldigte er hier Mozarts Genie. Die Streicher des LSO folgten Batiashvili mit kammermusikalischer Reaktionsschnelle, mit scharf akzentuierten Rhythmen, die Holzbläser glänzten durch plastische Artikulation – eine Mozart-Interpretation, die mit Natürlichkeit und Noblesse überzeugte. Der große Beifall wurde mit einer modernen, furiosen Zugabe von Batiashvili belohnt.
Nach der Pause dann Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“ – eine Sinfonie der Obsession, der Abgründe, der Halluzinationen. Und Pappano war der ideale Erzähler dieses musikalischen Psychogramms. Der erste Satz begann mit jenem zögerlich suchenden Atem, der nur in den besten Aufführungen entsteht: Die Bläser formten fragile Akkorde wie aus Glas, ehe die Streicher mit einer Kantabilität einsetzten, die wie ein leiser Traum durch den Saal schwebte. Pappano spannte einen großen Bogen, ließ Raum für innere Regungen, hielt aber die Spannung wie unter einem inneren Magnetfeld zusammen. Jeder dynamische Anstieg war organisch vorbereitet, jede Tempobewegung dramaturgisch motiviert.
Im zweiten Satz – dem Walzer – schwebten die Violinen mit seidiger Eleganz durch den Raum, die Pizzicati der Kontrabässe perlten wie Champagnerblasen. Die Harfen setzten mit sonoren Glissandi glanzvolle Akzente. Pappano vermied jede Trivialität, stattdessen akzentuierte er das Tänzerische mit feinem Understatement – fast wie eine ironische Erinnerung an gesellschaftliche Maskerade.
Der dritte Satz – die Szene auf dem Land – geriet unter seinen Händen zur klanglichen Meditation. Die Englischhorn-Kantilene war von melancholischer Klarheit, der ferne Oboenruf vibrierte wie ein einsames Echo. Pappano tastete sich behutsam durch die Nuancen seelischer Zerrissenheit, ohne in Sentimentalität abzugleiten. Vorbildlich auch das abgestufte Donnergrollen am Ende – vielschichtig und eindrucksvoll geformt.
Der vierte Satz – „Gang zum Schafott“ – war ein musikalischer Albtraum in Cinemascope: die marschartige Exaktheit der Streicher, das drohende Mahnen der Bässe, das fahle Licht der Hörner, die grell aufschreienden Holzbläser, das strahlende Blech – alles wurde mit erbarmungsloser Klarheit und zugleich theatralischer Wucht gezeichnet. Und dann das Finale – der Hexensabbat – als eruptiver Höhepunkt. Pappano ließ das Orchester förmlich explodieren, ohne die Kontrolle zu verlieren. Die Blechbläser klangen giftig und schneidend, die Tuba grimmig, das Schlagwerk wie ein grollender Vulkan. Doch es war keine bloße Lautstärke – sondern kontrollierte Raserei. Die bizarren Wendungen der Partitur – das groteske Dies irae, das schiefe Tänzeln der Holzbläser – wurden mit glasklarer Transparenz herausgearbeitet. Ein großes symphonisches Theaterspiel, hinreißend dargeboten vom London Symphony Orchestra und seinem charismatischen Dirigenten.
Am Ende brandete Applaus auf – in der Alten Oper wie auf dem Opernplatz. Pappano bedankte sich sichtlich bewegt mit einer persönlichen Ansprache und schenkte dem Publikum eine anrührende Zugabe: Gabriel Faurés „Pavane“, feinster Orchestergesang. Doch blieb mehr als nur Begeisterung: ein innerer Nachhall, ein Erzittern, eine poetische Umarmung durch das LSO. Pappano hatte nicht einfach ein Konzert dirigiert – er hatte eine Geschichte erzählt. Eine Geschichte von Liebe, Wahn und Ekstase, verdichtet zu einer klanglichen Seelenlandschaft. Das London Symphony Orchestra zeigte sich als ideales Instrument dieses Erzählens: technisch makellos, aber vor allem getragen von einer Ausdruckstiefe, die lange nachwirkte.
Dirk Schauß, 03. Juni 2025
Konzert in der Alten Oper am 02. Juni 2025